1. Kapitel
Es war die Nacht des Tausendsassas. Die frühsommerliche drückende Hitze des 4.Juni hatte Fuseta, das kleine Fischerdorf an der Algarve, den ganzen Tag über fest im Griff. Den 32 Grad am Nachmittag wichen viele Bewohner an die Ufer der Lagune aus. Und wem das Wasser dort zu ruhig oder zu warm war, der ließ sich von den Barkassen und Wassertaxis zu den vorgelagerten Stränden übersetzen, wo der Atlantik seine sanften Wellen unermüdlich ans Ufer warf. Wer im Dorf zu tun hatte, flüchtete sich unter einen Sonnenschirm oder wenigstens in den Schatten einer Pinie, in ein Café oder in eines der Bistros vorne an der Promenade. Die Katzen erholten sich immer noch unter den geparkten Autos von dem nächtlichen lautlosen Durchstreifen ihres Reviers. Die Hunde dösten in schattigen Ecken auf den abgewetzten Steinen der Gassen.
Ein wolkenloses Azur spannte sich über den kleinen Ort und das Meer, bis die Dämmerung sich mit einem feinen, gelben Streifen am Horizont ankündigte. Ein Azur übrigens, das es nur hier an der Sand-Algarve gab, wie die Bewohner wussten. Doch heute zogen von Südwest Wolken als Vorboten der Nacht auf. Die Sonne, die schon hinter der dünnen Linie zwischen Himmel und Wasser verschwunden war, bestrahlte sie von unten mit einem intensiven Rot. Es war, als stünde der Himmel in Flammen.
Erst jetzt, da die Hitze langsam wich, füllten sich die Gassen Fusetas mit Leben. Die sinkende Temperatur war wie eine stumme Verheißung, die die Einwohner und die wenigen Touristen aus ihren Wohnungen und Häusern lockte. Einige flanierten an der Lagune entlang bis hinüber zum Kanal, an dem die Boote vertäut lagen, deren Besitzer sich zum Aufbruch in die Nacht bereit machten, um draußen einsam jene Meerestiere zu fangen, die am nächsten Morgen in der Markthalle angeboten wurden. In den schmalen, verwinkelten Straßen fuhren junge Männer mit ihren hübschen Sozias waghalsige Kurven auf knatternden Mopeds, deren Zweitaktergemisch noch Minuten später schwer in der Luft hing. Nachbarinnen unterhielten sich auf dem Trottoir, und ganze Familien zogen los, um mit Freunden eine gute Zeit zu haben. Die Bars und Restaurants füllten sich und über Fusetas Häusern stiegen kleine Rauchsäulen auf. Sie verbreiteten den Geruch von gegrilltem Fleisch und Fisch. Einige Lokale boten in ihren winzigen Räumen nur Platz für zwei oder drei Tische, deshalb bestuhlten sie einfach die Bürgersteige und bereiteten ihre Köstlichkeiten auf Grills zu, so groß wie Steinway-Flügel.
In diese abendliche Stimmung mischte sich der Tausendsassa. O faz-tudo. Wie ein Chamäleon, das sich nicht der jeweiligen Umgebung anpasste, sondern der jeweiligen Situation.
Er trat aus seiner unscheinbaren Werkstatt in der Rua da Paiol, in der er offiziell wie inoffiziell alles und nichts reparierte, während sein eigentliches Geschäft in der Etage darüber stattfand, die er alleine bewohnte. Victor Pais war 34 Jahre alt, ging aber locker als 30 durch. Eine schmale Erscheinung mit einem jungenhaften Grinsen, das um seinen Charme wusste und es zugleich in einer Weise einsetzte, dass die Leute ihm deshalb trotzdem nicht böse sein konnten. Er trug weiße Turnschuhe, Jeans und ein halb offenes Hemd. Auf seiner braun gebrannten Brust klimperten drei Ketten, wenn er sich bewegte, und im Moment bewegte er sich Richtung Osten.
Keine zweihundert Meter weiter traf er an der Hauptstraße einen gedrungenen Kerl, der rauchte und dessen allgegenwärtiges Misstrauen sich in Form tiefer Falten an der Nasenwurzel in sein Gesicht graviert hatte.
»Olá – du bist der Tausendsassa, hm?«, stellte der Mann fragend fest und musterte ihn dabei eher mit Neugierde als mit Interesse. Wie ein seltenes Tier, von dem man sich erzählte, das man aber noch nie selbst zu Gesicht bekommen hatte.
Victor Pais nickte: »Genau. Und jetzt?«
»Jetzt gehen wir ein paar Meter.«