Gastspiel

Michel Houllebecq & Clement aus »Schlafende Hunde« von Anja Rützel

Clement
Anja Rützel

Manchmal wird Michel Houellebecq versehentlich für meinen Vater gehalten. Schuld daran ist ein gerahmtes Bild, das in meiner Küche hängt: Es zeigt den Autor, er trägt kurze Hosen, ein gelbes Hemd, eine rote Weste und hat durchaus Ähnlichkeit mit einem sommerlich angeschwitzten DHL-Mitarbeiter. Er hält einen Hund auf dem Schoß, länglich wie ein Zugluftstopper, den man zur Abdichtung auf das Fensterbrett legt, und drückt dem offenbar von einem schönen Ausflug erschöpften, hechelnden Tier einen Kuss auf die Schläfe.

»Ist das dein Vater?«, haben mich schon drei Freunde gefragt. Hat man Houellebecqs zerzauste Erscheinung der jüngsten Jahre im Sinn, wäre das ein Affront. Aber auf dem Foto mit seinem Hund sieht er sehr gut aus: Er glänzt vor Glück und schmunzelt, er ist kaum zu erkennen. Der Hund ist Clément, ein Welsh Corgi Pembroke. Seine offizielle hunderassenbestimmungsnormierte Fellfarbenbezeichnung ist rot/weiß – von Goldrot über Fuchsfarben bis Rehbraun reicht die Toleranzspanne dafür, wie bunt ein Corgi sein darf. Clément hat exakt dieselben Farben wie mein Lieblingseis aus Kindertagen – Pop Orange – und könnte, wenn man ihm die Augen nur minimal vergrößern würde, sofort eine eigene koreanische Zeichentrickserie bekommen, in der er unter dem Namen »Clemmy, der Mandarinenfuchs« putzige Kriminalfälle löst, assistiert von zwei verständigen Meerschweinchen.

Ich kann seinen Niedlichkeitsgrad kompetent beurteilen, denn ich habe Clément tatsächlich einmal live gesehen. Allerdings hat er unser Treffen fast vollständig verschlafen. Zwei Stunden lang lag der Vanille-Orangeneis-Hund dabei unter einem Tisch, die stummeligen Pfoten zuckten manchmal im Traum, als zöge ein untalentierter Puppenspieler mit zu ruckartigen Bewegungen an daran befestigten Nylonfäden. Unten schlief also Clément, oben sprach Michel Houellebecq mit der Moderatorin einer Literatursendung, worüber genau, weiß ich nicht mehr, möglicherweise habe ich damals, vor gut 15 Jahren, erst gar nicht zugehört. Ich saß im Publikum und schaute sehr verliebt auf den Hund, der mit dem Autor auf die Bühne gehoppelt und schon nach wenigen Minuten in tiefen Schlaf gefallen war.

Clément war immer dabei. Es gibt noch ein zweites schönes Foto von Herrn und Hund, das ich mal beim Googeln fand, auf dem Clément über Houellebecqs Schulter hängt, halb königliches Hermelin, halb Piratenpapagei, es sieht aus wie ein spontan improvisiertes Autorenporträt, geknipst bei einem Interview. Gekauft hat Houellebecq den Hund im Jahr 2000. Von Anfang an nahm er ihn mit zu Preisverleihungen, sprach über ihn mit Journalisten. Als Autorenkollege Frédéric Beigbeder den Autor für die französische GQ interviewte, war seine zweite, bange Frage: »Wie geht es Clément?« Dass der Hund zu der Zeit in einer Tierklinik behandelt wurde, hatte die gesamte französische Literaturszene mitbekommen. Houellebecq konnte ihn beruhigen, es gehe Clément schon besser; er bat die GQ-Leser trotzdem, für seinen Hund zu beten.

Nach dem Erscheinen seines Romans »Plattform« (in dem die Freundin des Protagonisten bei einem Terroranschlag stirbt) wurde er von islamistischen Fundamentalisten bedroht und versteckte sich zeitweilig in Irland auf dem Land. Als ihn dort ein Reporter des Scotsman besuchte und vorsichtig fragte, wie es so gehe, klagte Houellebecq, Clément sei gerade zwei Jahre alt geworden und komme darum nun allmählich in das Alter, in dem er sexuelle Ambitionen entwickele, und fragte den Journalisten, ob er ihm womöglich einen Kontakt zur königlichen Familie – und zu den Corgis der Queen – herstellen könne. Ein Witz, klar, aber Michel und Elizabeth – wie wunderbar verdruckst und hinreißend bizarr hätte dieses Treffen zweier großer Corgi-Freunde werden können, anberaumt allein zu Hundekopulationszwecken.

Wenn es um Clément ging, kümmerte sich Houellebecq wenig um die äußeren Umstände. Als »Die Möglichkeit einer Insel« in den Niederlanden veröffentlicht wurde, weigerte er sich, dafür auf Interview-Tingelreise zu gehen, und ließ die Journalisten in die Vogesen reisen, wo er gerade urlaubte. Um dort das sorgfältig terminierte Schwadronier-Schedule nonchalant zu sprengen, indem er ein paar Stunden verschwand, um Kroketten für seinen Hund zu kaufen. Tiervernarrte Marotten wie diese machen mir Houellebecq hochsympathisch. Natürlich habe ich auch deshalb eine besondere Schwäche für Clément, weil bei seiner Ausstattung ähnlich verschwenderisch mit Ohrenmaterial umgegangen wurde wie bei meinem eigenen Hund. Clément sieht tatsächlich aus wie eine selbst gebaute Version von Juri, bei der ein schludriger Heimwerker ein paar Zwischenteile und Verbindungsstücke verschlampt hat, sodass das Ergebnis nun leicht gestaucht und ulkig verkürzt wirkt. Zusammen könnten Clément und Juri ein Hunde-Remake von »Twins« drehen, diesem Film, in dem Danny DeVito und Arnold Schwarzenegger Zwillinge spielen – vermutlich wäre diese Produktion noch erfolgreicher als die Mandarinenfuchs-Detektivserie.

Ich liebe Houellebecqs Bücher, auch dafür, dass sie in ihrem zynischen Grant manchmal kaum auszuhalten sind, echte Zumutungen, und zwar noch mehr, seit ich weiß, dass ihr Verfasser eben nicht der universal lebensverachtende Schmuddel-Skandalisator ist, zu dem er so oft und so schlichthirnig geschrumpft wird. Die menschliche Korrumpierbarkeit und die marode Welt in all ihren schlammigen Schattierungen sind keine erbaulichen Themen, und Houellebecq kokettiert natürlich auch damit, dass ihn so viele mit dem Erzähler und den Figuren seiner Romane (die er obendrein gern mal »Michel« nennt) verwechseln. Dauernd muss man sich bei ihrer Lektüre fragen, was Ernst, was Provokation ist. In seiner Rolle als Hundebesitzer aber ist Houellebecq buttrig weich, wie nach einem aggressiven Peeling, das alle krustigen Ironieschichten um ihn herum abgeschmirgelt hat. Clément und Houellebecqs Liebe zu ihm ist der einzige Kontext, der ihn eindeutig macht. An Houellebecq ist nichts Niedliches, aber als Herrchen wird er tatsächlich auch ein wenig zum Houellebecqchen. Obwohl man die gewohnte misstrauische Musterung natürlich nicht so einfach einstellen kann: Wenn er mit seiner damaligen Frau auf der Webseite von Cléments Züchter posiert – ist das dann wirklich, echt, ernst gemeint? Und wer kommt überhaupt auf die Idee, Houellebecq als Werbe-Testimonial einzusetzen – außer vielleicht die Hersteller von Anti-Gilb oder beuligen Altherrencordhosen?

In einem Interview hat er einmal erklärt, seine Gefühle für Clément entsprächen am ehesten der sentimentalen Poesie der Romantik, deren Kunst er überhaupt verehre: das Schmachten nach Unendlichkeit, die Sehnsucht nach dem Nichtrelativierbaren, Nichtkleinzuknickernden. Er liebt seinen Hund, weil diese Form der Liebe die einzige, absolute ist, die niemals enttäuscht werden kann. Houellebecq ist in diesem Sinn also zumindest Teilzeit-Romantiker. Und Gleitzeit-Zyniker – was sehr gut passt, weil »zynisch« dem griechischen Wortstamm nach ja ursprünglich »hündisch« bedeutet.

Tatsächlich wird Houellebecq ganz pastellen, wenn er über Clément spricht. In einem hundezentrischen Interview mit Le Figaro teilt er, ganz anders als in seinen üblicherweise mit Stinkbömbchen versetzten Gesprächen, rührende Beobachtungen aus dem gemeinsamen Leben: »Als er jung war, war er ein ziemlich schüchternes Tier. Ich lebte in einem Haus, in dem es viele Türen gab. Manchmal war er stundenlang hinter einer Tür eingesperrt, ohne einen Mucks zu machen. Ein Mensch würde das niemals tun, er würde schreien. Clément konnte stundenlang hinter einer Tür warten. Ich suchte ihn dann irgendwann, schob die verschiedenen Türen auf und fand ihn. Ich finde das sehr bewegend, diese Art zu warten, diese Zuversicht. Der Hund legt sein Leben in deine Hände. Er macht dich völlig verantwortlich für sein Überleben, wie ein Kind. Aber das Kind hat keine Wahl. Der Hund gibt sich freiwillig.«

Einen Hund zu haben, sagt Houellebecq, verändere die Vorstellung vom Leben. »Das wäre fast das Thema eines Buches: Wie ein Hund die Lebensauffassung beeinflusst.« Ein solches Buch hat er noch nicht geschrieben, aber Clément hat Gastauftritte in den meisten seiner Bücher – eindeutig identifizierbar in seiner ganz persönlichen Corgi-Inkarnation oder vertreten durch abstrakte Artgenossen. Hunden schenkt Houellebecq die zärtlichen Momente, die es in seinen Büchern selten gibt.

In »Elementarteilchen« beschreibt Bruno seine Vorstellung vom Paradies, über die er einen Film drehen möchte: »Der Film spielt auf einer Insel, die ausschließlich von nackten Frauen und kleinen Hunden bevölkert ist. Im Anschluss an eine Katastrophe sind die Männer sowie fast alle Tierarten von der Erde verschwunden. (…) Die Frauen bleiben ewig jung und frisch, die kleinen Hunde ewig lebhaft und fröhlich.« Viel Aufwand legt Houellebecq in die genaue Auflistung aller Hunderassen, die in diesem Paradies leben: »Pudel, Foxterrier, belgische Zwerg-Griffons, japanische Chin-Hündchen, König-Karls-Hündchen, Yorkshire-Terrier, Kraushaar-Malteser, Westies und Harrier Beagles. Der einzige große Hund ist ein braver, sanfter Neufundländer, der eine Art Ratgeber für die anderen darstellt.« Eines Tages ertrinkt eines der kleinen Hündchen fast, weil es sich beim Schwimmen zu weit hinauswagt, doch seine Herrin merkt es rechtzeitig, zieht es aus dem Meer und erweckt es durch Mund-zu-Mund-Beatmung wieder zum Leben.

In »Die Möglichkeit einer Insel« hat Houellebecq Clément ein Denkmal gesetzt. Letzterer begleitet den Protagonisten dort als »Fox«, der, wie alle Hunde, eine »Liebesmaschine« sei: »Man stellt ihm ein menschliches Wesen vor und gibt ihm den Auftrag, es zu lieben – und dieses Wesen mag noch so plump, pervers, deformiert oder dumm sein, der Hund liebt es.« Genau so habe er es selbst erlebt, als er Clément kennenlernte, sagt Houellebecq: »Er war drei Monate alt und ungefähr zwei Stunden in seiner kleinen Transportkiste, bevor er ausstieg. Ich streichelte ihn, und ich glaube, er verstand sehr schnell, welche Menschen er mögen soll. Und er hat es hinbekommen. Es kam mir wie seine Mission vor: Er hatte die Mission, diese Menschen glücklich zu machen, sie zu lieben. Und er macht es. Es ist erstaunlich, er macht es. Er ist eine Quelle reiner Freude, perfekt.«

Fox tritt gleich am Anfang des Romans auf (»Meine gegenwärtige Inkarnation verschlechtert sich; ich glaube nicht, dass sie noch lange währt. Ich weiß, dass ich bei meiner nächsten Inkarnation meinen Gefährten wiederfinde, den kleinen Hund Fox.«), und mit ihm schließt das Buch, zumindest fast: Auf der vorletzten Seite sagt Daniel25, der 24. Klon von Daniel1: »Ich würde auf jeden Fall mein obskures Leben als verbesserter Affe so gut es ging fortsetzen, und ich bedauerte dabei nur zutiefst, dass ich den Tod von Fox verursacht hatte, dem einzigen Wesen, dem ich je begegnet war, das es verdient hätte zu überleben; denn in seinem Blick lag schon manchmal ein Funke, der die Ankunft der Zukünftigen ankündigte.«

Dazwischen passiert wenig Schönes und einiges Ekliges, die Menschheit ist schwerst lädiert und klont sich lethargisch durch ihre Existenz, ziemlich verzweiflungspornös kommt einem das alles vor. Die Liebe ist als Idee in dieser Welt längst abgewrackt und existiert nur noch in einer Konstellation: der bedingungslosen Zuneigung zu einem Hund, zu Fox eben, die sämtliche Daniel-Neuauflagen durch die Jahrhunderte überdauert, ungebrochen, wie bei dem ersten Zusammentreffen. »Ein kleiner rotbraun gefleckter weißer Hund mit spitzen Ohren, der höchstens drei Monate alt war, kroch auf sie zu – eine richtige Promenadenmischung. Sie bückte sich, nahm das Tier in die Arme und ging zum Auto zurück. So hielt Fox Einzug in unser Leben – und mit ihm die bedingungslose Liebe.«

Auch in »Karte und Gebiet« kommen Hunde vor. Selbstparodistisch scharwenzelnd tritt ein Bologneser Schoßhündchen namens Michel auf, das fast an Herzwürmern zugrunde geht und mit einem anderen Bologneser namens Lizzy Lady verpaart wird. Und es gibt einen kleinen Cameo-Auftritt von Clément. Wie ein Kind, das sein Lieblingsstofftier überallhin mitschleppen muss, hat Houellebecq ihn auch in dieses Buch geschrieben: als Begleitung eines mageren, alten Mannes in ein Café, zu dessen Füßen »ein rötlich weißer dicker Hund, ein kleiner Rattenjäger« lag. Beide tragen nichts weiter zur Handlung bei, als settingbildend halb zu schlummern. Tatsächlich handelt es sich hier sehr sicher um einen Corgi, denn die berufstätigen Exemplare dieser Rasse hatten früher auf den Britischen Inseln die Aufgabe, den Hof frei von Ratten zu halten und den Hühner- und Kaninchenstall vor Marder und Fuchs zu schützen.

Ich freue mich über jeden versteckten Clément, den ich in einem Houellebecq-Buch finde, und komme mir beim Entdecken vor wie die Wissenschaftler, die mit Infrarotlampen ein kleines Selbstporträt von Caravaggio in seinem Bacchus-Gemälde fanden – als seien es versteckte Grüße von einem Hundefanatiker zum anderen. Houellebecqs Zuneigung zu seinem auf Fotos irgendwie immer zu grinsen scheinenden Stummel-Clément macht die Autorenkunstfigur für mich zu einem kompletteren, komplexeren Menschen. Zu einem, den man bei aller Ehrfurcht vielleicht nicht anfassen, aber zumindest ansprechen könnte.

Nach einer Lesung in der Stuttgarter Liederhalle – er las aus »Plattform«, dem Buch, in dem Islamisten einen Anschlag auf eine Sex-Hotelanlage verüben, es kommt kein Hund zu Schaden, weil untypischerweise im ganzen Buch keiner auftritt – stellte ich mich also in die Reihe der Signiertouristen, obwohl ich große Bedenken hatte, dass Houellebecq wahrscheinlich Leser herzlich verachtet, die sich dem verehrten Autor in einer Schlange (die mich immer an die katholische Hostien-Ausgabe erinnert) und in ehrfürchtiger Shrimp-Haltung nähern, um sich einen Krakelkringel in ihr Buch malen zu lassen.

Also bat ich ihn, als ich an der Reihe war, nicht um seinen Namensschriftzug, sondern fragte ihn – vorsichtshalber auf Englisch und nicht in meinem inzwischen zum bödefeldisierten Fantasie-Genäsel verfremdeten Schulfranzösisch – ob er mir vielleicht einen Hund zeichnen könne.

Er saß da, leicht ramponiert, durchaus Furcht einflößend, in einem bestürzend weit aufgeknöpften, silber-metallisch schimmernden Hemd, rauchte – die Zigarette klauenhaft zwischen Mittel- und Ringfinger geklemmt, wie es seine Art ist – und schaute mich an. »So you are obsessed with dogs?«, fragte er mit dick aufgestrichenem französischen Akzent, der das »dogs« wie »doogs-eh« klingen ließ. Ich nickte stumm und schüchtern. Houellebecq lächelte. »It’s good«, sagte er und erklärte, dass er mir ein Porträt seines eigenen Hundes zeichnen würde. »Clément«, sagte ich, ein bisschen zu streberhaft; und umqualmt von seiner Zigarette, der kleinsten portablen Nebelmaschine der Welt, malte mir der Starautor sehr konzentriert einen winzigen, ebenfalls rauchenden Hund. Der geriet extrem minimalistisch und sah eher wie ein Nürnberger Bratwürstchen mit Streichholzbeinen aus, das Feuer spuckte, sein Kopf war kaum hundeähnlich, eher schweinös. Ich hätte fast geweint vor Rührung. Anschließend verschrieb sich Houellebecq, als ich ihn dann doch noch um eine Widmung bat, bei meinem Namen, aber das war nebensächlich.

In den folgenden Jahren freute ich mich immer sehr, wenn irgendwo ein Foto von ihm und seinem Hund auftauchte. Dass er sich ausgerechnet einen Corgi ausgesucht hat, schien mir nach anfänglicher Verwunderung inzwischen sehr plausibel: Der Corgi ist ein niederläufiger Hund, dessen Beine im Vergleich zu Kopf und Körper grob gesagt wie unsachgemäß abgesägt erscheinen. Seine Proportionen sind völlig aus dem Ruder gelaufen, er ist eigentlich ein Hündchen, das den Kopf eines viel größeren Tieres trägt, als könne er sich nicht recht entscheiden, wie er wahrgenommen werden wolle: niedlich oder Furcht einflößend. Spontan hatte ich früher immer gedacht: Wenn Michel Houellebecq ein Hund wäre, wäre er wahrscheinlich ein leicht räudiger Terrier, sprödfellig, ein klassischer Wadenbeißer. Aber vielleicht ist er tatsächlich doch einfach ein kleiner Hund mit zu großem Kopf.

Ich fantasierte mich, wenn ich ein Foto von den beiden sah, gern für eine gemeinsame Gassirunde in ihren Alltag. Und fand es lustig, mir vorzustellen, dass auch Houellebecq ein Sortiment eigenwilliger Ausführbekanntschaften hat, so wie ich. Gassi-Gossiper, mit denen er über die Nachbarschaft tratschen muss, während der Hund presst. Aber Houellebecqs Hundefreunde waren doch anders sortiert als meine, musste ich feststellen, eher vom Kaliber eines François Nourissier. Den Autorenkollegen und langjährigen Präsidenten der Jury der Académie Goncourt, die den gleichnamigen, renommierten französischen Literaturpreis vergibt, besuchte Houellebecq regelmäßig zu Hause, las ich in Le Monde: Während Clément in Nourissiers Garten spielte, verlustierte sich Houellebecq demnach in dessen Weinkeller, mitunter soll er danach so derangiert gewesen sein, dass Herr und Hund anschließend auf der Jurypräsidenten-Couch übernachten mussten. Das schrieb Le Monde natürlich nicht einfach so, sondern um eine fiese Andeutung zu machen. Nourissier selbst, inzwischen verstorben, war nämlich seinerseits ein großer Hundenarr. Er veröffentlichte das Buch »Dogs in the Louvre«, in dem er Gemälde mit Hunden auflistete, etwa Rubens »Krönung der Maria Medici«, mit zwei bräsigen Laufhunden vorne rechts. Und »Lettre à mon chien«, eine Liebeserklärung an seinen Dackel Polka, der für ihn intimer Vertrauter und sogar Psychoanalytiker gewesen sei. Knapp ein Jahr nach der Veröffentlichung dieses Buches starb Polka eines Dezemberabends in Nourissiers Armen. Man kann sich gut vorstellen, wie Cléments Besuche ihn in seiner Trauer aufheiterten. Nourissier fasste Houellebecqs Visiten so zusammen: »Ich plaudere, er trinkt, der Hund rennt.« Le Monde sah die Zusammentreffen weniger harmlos: Die Zeitung deutete an, Houellebecq habe diese Besuche aus Kalkül unternommen, um Nourissiers Fürsprache bei der Académie Goncourt zu gewinnen. 2010 erhielt Michel Houellebecq den Preis tatsächlich.

Beim Schreiben, sagt er, schaue er mit hundeähnlichem Blick auf die Welt. Ungefähr so nämlich, wie die angebundenen Hunde vor dem Supermarkt auf die Passanten schauen. »Es ist schwer, aber es lohnt sich, sich darauf zu trainieren, durch ihre Augen zu sehen«, so der Autor. »Ich versuche zu spüren, was sie fühlen, wenn sie Menschen sehen, die sich bewegen. Es gibt viele Dinge, die Tiere nicht verstehen können. Um zu schreiben, muss man sich in diesen Zustand des Halbverständnisses versetzen. Es ist ein poetischer Geisteszustand, in dem wir Dinge auf seltsame Weise sehen. Im besten Fall fühle ich mich so, weit weg von der Menschheit.«

2011 starb Clément. Ich erfuhr es erst später, als ich zur Erbauung wieder einmal nach Bildern von Herrn und Hund googelte, und einen Bericht von seiner Beisetzung fand, den der spanisch-französische Autor Fernando Arrabal auf seinem Blog veröffentlicht hatte. »Der Hund ist so etwas wie ein endgültiges Kind«, hatte Houellebecq in »Karte und Gebiet« geschrieben, »ein Kind, das man überleben wird. Wenn man bereit ist, einen Hund zu lieben, muss man auch dazu bereit sein, ein Wesen zu lieben, das einem unweigerlich eines Tages entrissen wird.« Im Roman entgeht er diesem Kummer, in dem er sich selbst samt Hund umbringen lässt, splatterverliebt zerschreddern gar, sodass Protagonist Jed bei diesem Anblick an ein Werk von Jackson Pollock denken muss. Die Romanfigur Houellebecq besitzt allerdings keinen Corgi, sondern einen »großen, schwarzen Hund« – sollte das tatsächlich eine Anspielung auf Winston Churchills angebliches Depressionsmetapherntier sein?

Der echte Clément starb in Houellebecqs zeitweiligem Halbexil in Irland. Sein Mensch betrieb beträchtlichen Aufwand, um den Behörden die Sondergenehmigung für den Rücktransport des toten Hundes nach Frankreich abzutrotzen. Angeblich soll der damalige französische Landwirtschaftsminister Bruno Le Maire persönlich die Erlaubnis erteilt haben, womöglich halfen auch Houellebecqs Kontakte aus seinem früheren Leben, als er noch keine Bücher schrieb, sondern als IT-Mitarbeiter im Landwirtschaftsministerium Computer wartete.

»Cléments Tod hat Sie in tiefe Traurigkeit gestürzt«, stellte Paris Match beim offiziellen Trauerinterview fest. »Er hat meinem Optimismus sehr geschadet, der schon vorher nicht auf einem Spitzenwert war«, sagte Houellebecq: »Die Tatsache, dass kleine Hunde sterben können, ist inakzeptabel.«

Ich habe nach dem lebendigen auch den toten Clément gesehen – auf einem Foto. Auf den ersten Blick könnte man noch denken, er schlafe nur; der Kopf auf einem großen Kissen abgelegt, auf das das Wort »Forget« gestickt war. Aber wenn man schon einmal einen toten Hund gesehen hat, erkennt man: Clément war gerade gestorben. »Es braucht ein paar Sekunden, um die Welt zu löschen«, steht auf dem Foto, das 2013 auf einem Bildschirm im Pariser Palais de Tokyo zu sehen war, als Teil von Houellebecqs großer Retrospektive »Rester vivant«. Einen ganzen Ausstellungsraum hat er seinem Hund gewidmet, ein Kabuff der ultimativen Liebe: »Salle Clément«, holzgetäfelt, ausgelegt mit Teppichboden in rotem Tartan-Muster. Wenn man die Kitschschleuse weit aufmacht, kann man sich diesen Raum als begehbares Herz vorstellen, vollgerümpelt mit Hundekram: An den Wänden Schnappschüsse von Herrn und Hund, mit ungelenkem Bildaufbau und schummriger Belichtung, dazu kleine, fast kindliche Wasserfarbenporträts von Clément, gezeichnet von Houellebecqs damaliger Frau Marie Pierre. Die Abstammungsurkunde, ausgestellt vom Irischen Hundezüchterverband, verrät, wie Cléments Ururgroßeltern hießen. Das geschrumpelte, aber noch nicht ganz ausgemerzte Restmisstrauen strampelt ein bisschen, aber das hier kann unmöglich ein Witz sein, keine übersentimentale Provokation, denn dann wäre es ein schlimmer Betrug, weil einen diese Installation sofort selbst unfassbar traurig macht.

In der Mitte des Raums steht eine lange Vitrine, darin verschiedene Objekte des Hundealltags, zu unbenutzbaren Artefakten eingefroren, weil niemand mehr da ist, der mit ihnen spielen würde. Cléments Impfpass, auf dessen Foto er mit leicht weggeklappten Ohren exakt so unbehaglich aussieht wie Menschen auf Passbildern, dazu ein paar angenagte Kaubälle und etwa dreißig nachgelassene Kuscheltiere, sorgfältig etikettiert: »Große Maus«, »Kleine Kuh«, »Ente«, »Der Ball«. »Clément, such!« steht auf einem Zettelchen, das an der Vitrinenfront klebt.

Aus den Lautsprechern brummt Iggy Pop, der auf englisch Fox’ Sterbeszene aus »Die Möglichkeit einer Insel« vorliest: Er hat den Text für sein Lied »A Machine for Loving« übernommen, das er für eine Dokumentation des Filmemachers Erik Lieshout aufnahm. Sie heißt »To stay alive – A Feel Good Movie about Suffering«, und darin sprechen Houellebecq und Pop über Kunst und Depressionen. Sein »Salle Clément« sei der einzige Raum in der Ausstellung, der autobiografisch sei, sagte Houellebecq, und der einzige ganz und gar berührende: »Er ist ein Denkmal.« Der Raum, den er den Frauen widmete und in dem Fotos seiner Ex-Beziehungen zu sehen sind, sei dagegen nur teilweise autobiografisch: »Ich habe mehrere Frauen geliebt, aber nur einen Hund.«

Es regnet schon drei Tage durch, als ich Clément auf dem Friedhof besuche. Der Cimetière des Chiens in Asnières ist nur zwanzig Minuten Tramfahrt von der Pariser Innenstadt entfernt und wahrscheinlich der älteste Tierfriedhof der Welt. 1899 hat ihn Marguerite Durand, die berühmte Suffragette, angelegt, als sie ihre zahme Löwin »Tiger« begraben musste und nicht wusste, wohin mit dem Tier. Seit ich von Cléments Tod erfahren hatte, habe ich mir öfter vorgestellt, dass ich einfach nur nach Paris fahren und lange genug auf einer Parkbank in Asnières, nahe Cléments Grab, ausharren müsste, wenn ich Michel Houellebecq einmal dringend treffen wollte. Und sei es nur, um ihm am Grab seines Hundes zu sagen, dass ich genau weiß, wie er sich fühlt.

»Ich kenne keinen Ort, an dem es mehr Beweise für die Liebe der Menschen zu ihren Haustieren gibt, als auf dem Friedhof von Asnières«, schrieb Houellebecq nach Cléments Tod an die Präsidentin der Stiftung 30 Millions d’Amis, die den eventuell zweitwichtigsten französischen Literaturpreis nach dem Prix Goncourt vergibt: den für das beste Buch mit Tierbezug – tatsächlich tagen die Jurys beider Preise im selben Restauranthinterzimmer. Wenig später trat Houellebecq auch wirklich der Tierjury bei und liest sich nun jedes Jahr durch einen hohen Stapel Katzen-, Iltis-, Tapirprosa.

Ich gehe im Regen durch die Gräberreihen und lese die Schmerzverse auf den Grabsteinen. Auch Dalila ist hier irgendwo begraben, der Hund des Komponisten Camille Saint-Saëns, ich finde zufällig die erstaunlich bescheidene Ruhestätte des legendären Filmschäferhunds Rin Tin Tin. Vor allem Hunde liegen in Asnières, aber auch einige Katzen, dazwischen mal ein Kaninchen oder eine Schildkröte, irgendwo angeblich auch ein Pferd. Manche Grabsteine zieren nur golden eingemeißelte Namen: Kiki, Caramel, Fantomas. Shiba Pen-Wenn und Wellensittich Rosalinde teilen sich ein Doppelgrab. »Hier ruhen die ersten Komondore Frankreichs«, steht auf einem sehr großen Stein, dazu ein Foto mit einem halben Dutzend dieser wurstfelligen Hütehunde. Außer ihren Namen sind in trauriger Bürokratie auch ihre Meldenummern aus dem französischen Hunderegister eingraviert, einer von ihnen, Mount Everest, scheint tatsächlich der erste Vertreter dieser ursprünglich ungarischen Hunderasse gewesen zu sein, der in Frankreich lebte.

Ganz schwer auszuhalten ist es für mich, wenn außer den Namen der Tiere noch mehr auf dem Grabstein steht. »Socrates, unser bester Freund«, »Titus, unser lieber, kleiner Kaiser«. Bebe, wahrscheinlich ein Weimaraner, hat eine Statue von sich auf seinem Grab, dazu den Text »Menschlicher als ein Mensch, der schönste, der beste Hund, treuer Begleiter in guten und schlechten Tagen«. Ein zweiter Hund liegt mit im Grab, Goliath, den man pragmatisch kurzgefasst so würdigte: »Genauso wunderbar wie sein Vater.«

Man würde erwarten, dass dieser Tierfriedhof eine Ausstellung menschlicher Verletzbarkeit ist, über die Houllebecq sich gewohnt garstig und genüsslich hermachen würde. Stattdessen hat er seinen Hund hier begraben. Cléments Grab, das ich nach drei Stunden endlich finde, ist eingefasst von grauem Krisselgranit, ein gelber Rosenstock, eine rote Laterne. Auf dem Grabstein ist ein Foto von ihm, lächelnd wendet er sich dem Betrachter zu. Darunter liegt ein zweiter, flacher Stein, in den ein Gedicht gemeißelt ist, das Houellebecq seinem toten Freund schrieb:

Le 25 mars 2011 au milieu de la nuit

Ton cœur s’est arrêté de battre

Et le monde est devenu plus terne

Dors, mon petit bonhomme

Que de belles escapades

Que d’amour

Merci petit Clément.

»Am 25. März 2011 hörte mitten in der Nacht Dein Herz auf zu schlagen, und die Welt ist trüber geworden. Schlaf, mein Kerlchen. Welch schöne Streiche. Welche Liebe. Danke, kleiner Clément.«

Kann man sich Michel Houellebecq butterweicher, herzzerreißender, ehrlicher und, ja: tiefer liebend vorstellen?

 

  • Schlafende Hunde
    Anja Rützel

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Anja Rützel ist freie Autorin, und ihr liebstes Take-That-Mitglied ist Jason Orange (wegen seiner geheimnisvollen Aura und seines Kiefers). Anja Rützel träumte von einem eigenen Hund, seit sie sechs Jahre alt war. Heute lebt sie mit ihrem Podenco-Mix Juri in Berlin. Für das Hundemagazin Dogs schreibt sie eine Kolumne über diese Freundschaft. »Schlafende Hunde« ist ihr fünftes Buch.

Bild © Gene Glover