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Kiepenheuer & Witsch und das Köln der Achtziger-Jahre – eine Skizze von Helge Malchow

Helge Malchow, lange Jahre Lektor und Verleger des Verlags Kiepenheuer & Witsch, wirft in diesem Text einen persönlichen Blick zurück auf die Bücher, die in dieser Zeit entstanden sind, von denen viele nachhaltige Auswirkungen hatten – und auch großen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Verlags genommen haben.

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Am Sonntag, dem 8. März 1987, wurde im Kölner Rose Club nicht etwa der Internationale Frauentag gefeiert, sondern eine Buchpremiere. Joachim Lottmanns Roman »Mai, Juni, Juli« ist ein erzählerisches Dokument der drei titelgebenden Sommermonate des Jahres 1986 im Kölner Nachtleben rund um die damalige Subkultur der SPEX-Journalisten, der  bildenden Künstler, der Musikszene und der Kölner Verlagswelt. Das Einladungsplakat stammte von Martin Kippenberger und vermerkt lapidar: »Schallplatten: Diedrich Diederichsen«. Und neben der Ankündigung einer Hamburger Band namens »Medien, Märkte, Meinungen« (Mitglieder u. a. Detlef Diederichsen und Hans Nieswandt) lautet ein weiterer Programmpunkt: »Sabotage: Clara Drechsler«.

Ich nahm als junger Lektor an dem Abend teil, und soweit ich mich erinnere, wurden alle Ziele erreicht: Es ging wüst zu, Alkohol, handgreifliche Beleidigungen, eine defekte PA – das Gegenteil einer gepflegten literarischen Lesung.

Aus heutiger Sicht ist »Mai, Juni, Juli« ein archäologischer Fund und wirft ein Schlaglicht auf die wenigen Jahre, in denen sich »der Weltgeist tatsächlich nach Köln verfügt« hatte (so Diedrich Diederichsen), in die Kölner Club- und Kneipenszene zwischen Königswasser, Blue Shell, Pink Champagne und Kurfürstenhof. Und es stellt als Roman eine interessante Frage: Ist das Medium Buch in der Popkultur, die damals begann, konkurrenzfähig? Dass die Antwort auf diese Frage bis heute ja lautet, hat auch mit der Rolle des Kölner Verlags Kiepenheuer & Witsch zu tun, der in diesen Jahren die Energie des kulturellen Aufbruchs aufnahm und verstärkte, in Literatur umwandelte, in Theorie, in  Streitschriften, Manifeste, die dem Medium Buch die Antiquiertheit nahm, die diesem in den Siebziger-Jahren bisweilen spürbar anhaftete. Joachim Lottmanns Roman gilt auch deswegen bis heute als ein Impulsgeber für das, was dann eine ganze Zeit lang als Popliteratur firmierte – ohne, dass je wirklich klar wurde, was diese Bezeichnung bis heute meint: Lediglich neue Themen (Popmusik, Nachtleben,  Mode, Konsum, Drogen, Gegenwartskunst) oder auch neue künstlerische Verfahren: Cut-ups, Medienmixturen, Netzaffinität, performative Verfahren? Sicher ist: Gemeint war und ist eine Literatur, die ein empathisches Auge und Ohr für das Jetzt und Hier hat (ohne unkritisch zu sein), für den Glanz und die Schönheit und auch die Abgründe der Massenkultur und der Konsumgesellschaft, die Berührung hat zu anderen Kunstformen und Ausdrucksformen vom Journalismus bis zur digitalen Kommunikation, von der Jugendkultur und -sprache bis zum Sport, von der bildenden Kunst bis zum Film.

So waren diese paar Kölner Jahre für eine fast unübersehbare Zahl von Autoren und Büchern eine Startrampe, die bis in die Gegenwart weist. Auf »Mai, Juni, Juli« folgten bei KiWi bis heute acht weitere Romane von Joachim Lottmann (u. a. »Die Jugend von heute«, »Endlich Kokain« und »Alles Lüge«).

Den Beginn der Verlagsoffensive auf diesem Feld aber markierte Peter Glasers Anthologie »Rawums« aus dem Jahr 1984 mit Texten und Bild/Text-Collagen von Hubert Winkels, Heike-Melba Fendel, Georg Dokoupil, Clara Drechsler, Rainald Goetz, Diedrich Diederichsen und vielen anderen.

Den Österreicher Peter Glaser hatte ich in Düsseldorf über Hubert Winkels, damals Chefredakteur des Stadtmagazins Überblick, kennengelernt. Peter Glaser hatte für die  Anthologie  ein feurig-witziges Manifest für einen  notwendigen Aufbruch in der Literatur  verfasst: »Zur Lage  der Detonation. Ein Explosé«. Seine Lagebeschreibung der  damaligen  gängigen Gegenwartsliteratur würde auch heute hier und da wieder passen: »Botschaft wölkt aus den meisten Texten, wenn die Sprache sich nicht gerade wieder in Selbstbespiegelungen theoriebetrunken um sich selber dreht.« Das Gegenprogramm – nachdem er festgestellt hat: »Das  beste Buch des Jahres ist eine Schallplatte: ›Monarchie und Alltag‹ von Fehlfarben« – ist »Spannung, Verständlichkeit, Unterhaltungswert, Esprit, Thrills, straight und präzise«. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten wurde Peter Glaser zum Digital-Pionier (inklusive Ehrenmitglied im Chaos Computer Club, bis heute) sowie 2002 zum Ingeborg-Bachmann-Preisträger für Literatur.

Das wichtigste aus der Kölner Werkstatt dieser Jahre  hervorgegangene Buch war jedoch Diedrich  Diederichsens »Sexbeat« (KiWi, 1985). Neben dem bahnbrechenden Roman »Irre« seines Münchner Freundes Rainald Goetz (Suhrkamp,  1983) war dies die folgenreichste Buchveröffentlichung dieses historischen Moments. Beide Bücher kreisen um das Phänomen Pop, treiben es an seine Grenzen und testen seine kulturelle Sprengkraft – das eine essayistisch-erzählerisch, das andere literarisch. Der eine Autor in Köln, der andere in München.

Diedrich Diederichsens Veröffentlichungsliste ist mittlerweile unüberschaubar und markiert einen Denkweg zwischen Kunst, Musik, Theorie und progressiver Politik, der im deutschsprachigen Raum einzigartig ist. Nach allein zehn Büchern bei KiWi (u. a. »Politische Korrekturen«  1996, »Über Popmusik«  2014) erscheint im Frühjahr 2024 »Das 21. Jahrhundert/Essays«.
 
So hat die explosive Kreativität des Kölner SPEX-Umfelds nicht nur eine Serie von Büchern bei Kiepenheuer & Witsch nach sich gezogen, sondern den Kölner Verlag zumindest für einige Jahre zum Vorreiter einer Buchkultur gemacht, zu der wie selbstverständlich ein popliterarischer Programmanteil gehört. 2007 schaute Kerstin Gleba (mit Eckhard Schumacher) auf diese Zeit mit der Anthologie »Pop seit 1964« zurück, es erschienen Hans Nieswandts Bücher über DJ-Kultur („plus minus acht«, »Disko Ramallah«), Ralf Niemczyks Buch über  die  Fantastischen Vier, Gerald Hündgens Buch über Soul und den frühen Hip-Hop »Chasin’ a Dream«.

Dabei hatte diese Bücherexplosion bei KiWi ein Vorspiel, eine internationale Erweiterung und Folgen bis in die Gegenwart. Das Vorspiel: Die  Literatur der Beat-Generation  der Sechziger von William S. Burroughs (»Naked Lunch«) und »Silver Screen«, eine frühe deutsche Anthologie der US-Beat-Literatur, befördert durch den charismatischen Autor Rolf Dieter Brinkmann, eine Entdeckung des legendären Verlagslektors Dieter Wellershoff.

Die  internationale  Erweiterung: KiWi brachte einen wichtigen Teil der angloamerikanischen und englischen  Pop-Literatur der damaligen Zeit (die dort nie so hieß) in den deutschsprachigen Buchhandel, die zu einer Dauerinspiration für viele Autoren in Deutschland wurde: Kurze Berühmtheiten wie Tama Janowitz  (»Slaves of New York«), Klassiker wie Bret Easton Ellis (von »Unter Null« bis zum 2023 erschienenen »The Shards«-Roman) oder Nick Hornby (»High Fidelity« und »Fever Pitch«) sowie die Punk-Autorin Julie Burchill.

Die Auswirkungen dieser frühen Jahre definieren den Verlag bis in die Gegenwart: Die Autobiografien von Neil Young und Patti Smith, von Bob Geldof, Eric Clapton und Leonard Cohen wären sonst hier nicht erschienen, ebenso wenig wie die Romane von Nick Cave, die Erinnerungsbücher von Kim Gordon (Sonic Youth), von Jeff Tweedy (Wilco),  Dirk von Lowtzow (Tocotronic), Rio Reiser (Ton Steine Scherben), Kurt Cobain (Nirvana), Courtney Love, die Lyrics von Lou Reed oder die Bücher von Thees Uhlmann – um nur einige zu nennen.

Und später, als der Weltgeist weitergezogen war und eine neue Generation von Autorinnen und Autoren zum Beispiel bei Tempo in Hamburg einen neuen, erzählerischen Journalismus erfanden, waren viele darunter, die die Autoren der frühen Kölner Jahre zumindest aufmerksam gelesen hatten.  Auch dies wirkt bis heute nach.

Helge Malchow, August 2023

 

 

(Dieser Text ist erschienen im Buch »Wir waren hochgemute Nichtskönner« Die rauschhaften Jahre der Kölner Subkultur 1980–1995. von Gisa Funck und Gregor Schwering) 

»Wir waren hochgemute Nichtskönner«

Heute strömen Kulturschaffende scharenweise nach Berlin, doch in den 80er- und 90er-Jahren lag das unbestrittene Zentrum der bundesdeutschen Kunst- und Kulturszene ganz woanders: in Köln.

Der Startschuss für Kölns Aufstieg fiel am 15. Januar 1980, als im Basement die unbekannte britische Band Joy Division spielte. Peter Bömmels, Mitglied der Künstlergruppe »Mühlheimer Freiheit«, war von diesem neuen Sound dermaßen beeindruckt, dass er kurz darauf mit sieben Mitstreiter:innen die Zeitschrift SPEX gründete.

Hier meldete sich ein ganz neuer Musikjournalismus zu Wort, dessen kulturwissenschaftliche Analysen und steile Thesen nachts an denselben Kneipentresen ersonnen wurden, an denen zur gleichen Zeit etwa die späteren Gründer des Technolabels Kompakt standen, während sich nebenan New Yorker Künstler:innen und die Köpfe der legendären Autorenwerkstatt betranken. Die ganze Stadt flirrte vor kreativer Energie, und während wenige Kilometer weiter die Regierungsgeschicke gelenkt wurden, strahlte rund 15 Jahre lang die Kulturmetropole Köln weit über die Grenzen des Rheinlands hinaus.

Gisa Funck und Gregor Schwering haben Akteurinnen und Akteure aus der Zeit getroffen. Sie haben Geschichten gesammelt, Zeitdokumente studiert und in der eigenen Erinnerung gegraben. Ihr Buch ist das Porträt einer vergangenen Epoche und der letzten vordigitalen Bohème.

Gebundene Ausgabe 28,00 €
E-Book 22,99 €
  • Verlag: Kiepenheuer&Witsch
  • Erscheinungstermin: 02.11.2023
  • Lieferstatus: Verfügbar
  • 352 Seiten
  • ISBN: 978-3-462-00606-3
  • Autor*innen: Gisa Funck, Gregor Schwering

Einige der im Text erwähnten Bücher und Autor:innen:

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