Mein erstes Treffen mit Jan Faktor liegt 40 Jahre zurück, 1983. Jan ist Schriftsteller, deswegen erinnert er sich besser als ich:
»Du kamst als junger Lektor aus Westdeutschland mit einem Tagesvisum via Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße nach Ostberlin und trafst Dich mit uns, einigen Autoren und Autorinnen der Anthologie ›Berührung ist nur eine Randerscheinung‹, nahe des Bahnhofs. Ich dachte damals: Im Westen sind die Lektoren jung wie wir und haben Turnschuhe an.«
In der Tat war ich als KiWi-Lektor damals häufig in der DDR zu Besuch, offiziell bei den sogenannten Staatsverlagen, aber auch mehrfach in illegaler Mission, in Ostberlin, in Leipzig (DDR-Buchmesse) und in Dresden. Mein Bewegungsprofil konnte ich später anhand der Spitzelberichte über mich in der Behörde für die Stasi-Unterlagen genau nachverfolgen.
Es gab Anfang der 80er plötzlich diese neue Szene von Autoren / Künstlern, vor allem im Berliner Prenzlauer Berg, aber auch in Dresden, die nicht mehr in der Tradition eines erzählerischen Realismus von Christa Wolf bis Christoph Hein oder der politischen Lyrik Wolf Biermanns stand, sondern sich im Feld experimenteller Lyrik und Prosa bewegte, mit vielen Verbindungen zur Musik (Punk / Jazz) und zur bildenden Kunst (Grafikmappen, Fotocollagen, Porzellan-Brennerei, Malerei etc.). Man traf sich klandestin, in Kneipen, in runtergerockten Altbauwohnungen, in Kirchenräumen oder in versteckten Ateliers zu Lesungen, Ausstellungen und Konzerten. Das Ziel war nicht mehr ein verbesserter Sozialismus oder Kritik an den Lebensbedingungen in der DDR (etwa Monika Maron, Flugasche) mit erzählerischen Mitteln, sondern die Thematisierung der Sprache selbst als Material und die Dekonstruktion sprachlicher Konventionen.[1]
Die erwähnte Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung war wie viele literarische Projekte der DDR entstanden: als der unmögliche Traum einer vom Staat anerkannten oder geduldeten Avantgarde. Der Schriftsteller Franz Fühmann, lange auch von staatlicher Seite gepriesener DDR-Autor der älteren Generation, hatte Texte von jungen Autorinnen und Autoren im Auftrag der Akademie der Künste der DDR zusammengetragen, die nach einer internen Prüfung in der Akademie zu seiner Empörung sofort im Giftschrank verschwunden waren und für viele der Autoren das sofortige Aus bedeuteten: Verfolgung, Bespitzelung, Ausreise aus der DDR.
Dieses »heiße« Material, eine Mappe hektografierter Texte, wurde dann von Elke Erb und Sascha Anderson durch weitere Autorinnen und Autoren ergänzt, mit programmatischen Einleitungen versehen und in einer raffniert-subversiven Aktion zugleich dem Aufbau-Verlag der DDR und mir als Vertreter des westdeutschen Kiepenheuer & Witsch-Verlages angeboten. (Dieses Projekt lief fast parallel zu einem anderen DDR-Buchprojekt mit kritischen Reportagen und Porträts über die Realität der Arbeitswelt in der DDR in einer Havelobst-LPG von der DDR-Autorin Gabriele Eckart, das 1984 auch bei Kiepenheuer & Witsch unter dem Titel So sehe ick die Sache erschien). Beide Bücher wurden von den DDR-Verlagen auf staatlichen Druck hin nicht nur verboten und abgesagt: In einer slapstickartigen Rückholaktion reiste ein DDR-Verlagsmitarbeiter in Köln an, um die auf abenteuerlichem Wege über die Grenze geschmuggelten Manuskripte wieder einzusammeln. Das Ganze verbunden mit der Drohung, ansonsten jegliche Lizenzgeschäfte zwischen DDR-Verlagen und Kiepenheuer & Witsch einzustellen. Ergänzt durch ein weiteres Druckmittel, dem verzweifelten Hinweis des Emissärs auf sein eigenes Schicksal in der DDR, sollte er mit leeren Händen zurückkommen. Unser Mitleid hielt sich in Grenzen.
Als die Anthologie 1985 bei KiWi erschien, hatten neun von 29 Autorinnen und Autoren die DDR verlassen. Zu den 29 Texten kam noch ein Bildteil hinzu mit Reproduktionen von Text-Bild-Zeitschriften v. a. aus Dresden, die in Kleinstauflagen im DDR-Untergrund zirkulierten (»Und«, »POE SIE AL BUM« etc.)