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Tess Gunty über über ihren preisgekrönten Debütroman »Der Kaninchenstall«

Für ihren sensationellen Debütroman »Der Kaninchenstall« erhielt Tess Gunty Ende 2022 den National Book Award, einen der wichtigsten Literaturpreise der USA. Sie ist damit seine jüngste Preisträgerin seit Philipp Roth. Und das größte Talent der amerikanischen Literaturgeschichte seit David Foster Wallace ohnehin. »Der Kaninchenstall« verspricht eine solch intensive Lektüre, dass man kaum noch von »lesen« sprechen mag. »Durchleben«, »durchstaunen« wären bei diesem Meisterwerk weitaus angebrachter, gar »Erlebnis« kommt einem in den Sinn. Tess Gunty erzählte anlässlich des Erscheinens der amerikanischen Originalausgabe »The Rabbit Hutch« (2022) etwas über den Inhalt und über persönliche Beweggründe:

Hi, mein Name ist Tess Gunty und ich bin die Autorin von »Der Kaninchenstall« (Original: »The Rabbit Hutch«). Dies ist mein erster Roman [...]. Er spielt in der fiktiven, sterbenden Stadt Vacca Vale (Indiana) und folgt einer Gruppe von Figuren über einen Zeitraum von drei Sommertagen, als ihre Leben heftig kollidieren.

Im Zentrum des Romans steht eine junge Frau namens Blandine, die vor kurzem das Höchstalter für die staatliche Pflegeunterbringung erreicht hat. Sie hat eine Obsession für weibliche katholische Mystikerinnen entwickelt. Und obwohl sie nicht religiös ist, sehnt sie sich danach, die göttliche Ekstase, die die Mystikerinnen in ihren Werken beschreiben, zu erreichen. 

Blandine ist die Heldin dieses Romans, aber für mich symbolisiert sie als Hauptfigur Vacca Vale selbst. Vacca Vale ist inspiriert von meiner Heimatstadt South Bend (Indiana), neben vielen anderen Städten des Rust Belts wie Flint (Michigan), Gary (Indiana) oder Youngstown (Ohio). Wie viele dieser Orte wurde die Stadt durch Industrieansiedlungen gegründet und genauso schnell wieder durch die Industrie zerstört.

Die Handlung spielt Jahrzehnte nach der Schließung des Hauptwerkes und mittlerweile ist die Brutalität der rohstoffausbeutenden Wirtschaft überall sichtbar geworden: auf den verlassenen Geländen von Fabriken, in den imposanten und unnatürlichen Mais-Monokulturen und selbst in den verschlossenen Gesichtern der Menschen.

Ich habe ungefähr fünf Jahre an diesem Roman gearbeitet, bevor ich ihn eingereicht habe. Und während dieser Zeit hat mich die Überzeugung getragen, dass diese vergessenen Städte und diese vernachlässigten Menschen Aufmerksamkeit verdienen. Der Rust Belt beheimatet Millionen von Menschen, trotzdem ist er meiner Meinung nach stark unterrepräsentiert in der Vorstellungskraft Amerikas. Und wenn er vorkommt, wird er als »fly-over«-Land verspottet, als Punchline in Witzen benutzt, und als Heimat eines bestimmten Wählertyps beschrieben, dessen Schmerz und Wut sehr leicht von Politiker*innen ausgebeutet werden.

Aber ich kenne den Rust Belt als einen riesigen und vielschichtigen, lebendigen und diversen Ort. Und ich wollte in meinem Roman - neben der wirtschaftlichen Qualen - seiner Schönheit, seinem Humor und seiner Widerstandsfähigkeit Ausdruck verleihen und Raum geben.

Für mich ist dies ein Roman über Einsamkeit und Gemeinschaft, Gefangenschaft und Freiheit.
Und im Zentrum steht die Frage: Was sind wir uns gegenseitig schuldig? Was sind wir unseren Nachbar*innen schuldig, was uns selbst? Was Fremden? Den vergangenen und zukünftigen Generationen? Den nichtmenschlichen Einwohnern unseres Planeten?

Wenn du dich dazu entscheidest, dieses Buch zu lesen, hoffe ich, dass es dir die Gelegenheit gibt, zu lachen, zu reflektieren und dich weniger einsam zu fühlen. 

Tess Gunty anlässlich des Erscheinens der amerikanischen Originalausgabe »The Rabbit Hutch«, 2022. 
Übersetzung: Verlag Kiepenheuer & Witsch

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