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Stellungnahme des Verlags zur Kritik an Till Lindemanns Gedicht „Wenn du schläfst“ aus dem Gedichtband „100 Gedichte“

Die moralische Empörung über den Text dieses Gedichts basiert auf einer Verwechslung des fiktionalen Sprechers, dem sogenannten „lyrischen Ich“ mit dem Autor Till Lindemann.

Die Differenz zwischen lyrischem Ich und Autor ist aber konstitutiv für jede Lektüre von Lyrik wie von Literatur allgemein und gilt für alle Gedichte des Bandes wie für Lyrik überhaupt. Andernfalls wären keine literarischen Fiktionen und Phantasien des Bösen, der Gewalt, wie wir sie zahlreich aus der Weltliteratur von Henry Miller über B. E. Ellis bis zu A. M. Homes kennen, möglich und die Freiheit der Kunst damit hinfällig.

Dass der im Gedicht dargestellte Vorgang unter moralischen Gesichtspunkten zutiefst verwerflich ist, ist eine Selbstverständlichkeit und erlaubt keine persönliche Diffamierung des Autors.


3. April 2020

Helge Malchow, editor-at-large, für den Verlag Kiepenheuer & Witsch

 

Zur Debatte um das Gedicht „Wenn du schläfst“ von Till Lindemann
- Stellungnahme des Verlages

In den letzten Tagen entbrannte eine heftige Debatte um das Gedicht „Wenn du schläfst“ von Till Lindemann, enthalten im neuen Gedichtband „100 Gedichte“. Eine erste Stellungnahme des Verlages rief weitere Kritik hervor, weil sie sich auf einen literaturwissenschaftlichen Hinweis beschränkte. Wir sehen heute, dass unsere bisherige Reaktion auf die Kritik nicht angemessen war und bedauern dies sehr.
Till Lindemann ist seit 2013 Autor von Kiepenheuer & Witsch. Er untersucht in vielen seiner Texte und Inszenierungen, sei es mit seiner Band „Rammstein“ oder als Lyriker, Phänomene der Gewalt und der toxischen Männlichkeit und stellt sie in überzeichneter, greller, mal satirischer, mal brutaler Manier in seiner Kunst zur Schau, so auch immer wieder in seinem Gedichtband „100 Gedichte“. Als Verlag verteidigen wir die Freiheit der Kunst, auch moralisch verwerfliche, abgründige Gefühls- und Gedankenwelten auszuloten und zum Ausdruck zu bringen.
Zugleich sehen und begrüßen wir, dass sich in den letzten Jahren gesellschaftlich etwas verändert hat, genauer: Sexualisierte Gewalt gegen Frauen wird endlich stärker thematisiert. Diese gesellschaftliche Entwicklung unterstützen wir rückhaltlos. Wir beziehen hier klar und eindeutig Position. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen gehört benannt und bekämpft.
Die Frage, wie sich diese positive gesellschaftliche Entwicklung auf die Kunst und auf die Literatur und auf deren Rezeption auswirkt, werden wir zukünftig im Verlag noch intensiver diskutieren. Wir nehmen die gegenwärtige Debatte und die vorgetragenen Perspektiven und Argumente der Kritiker*innen sehr ernst und werden viele wertvolle Impulse mitnehmen in unsere weitere Arbeit.
Köln, den 9. April 2020
Kerstin Gleba, Verlegerin von Kiepenheuer & Witsch