»Verschwiegen« von Eva Björg Ægisdóttir

Verschwiegen

Ein Island-Krimi

In der Kleinstadt Akranes kennt jeder jeden und das Alltagsleben verläuft in ruhigen Bahnen. Bis eines Tages am Leuchtturm, dem Wahrzeichen der Stadt, eine unbekannte Tote gefunden wird. Polizistin Elma, die selbst erst vor Kurzem aus Reykjavík in ihre Heimatstadt zurückgekehrt ist, übernimmt die Ermittlungen. Und schon bald stößt sie auf ein Geheimnis aus der Vergangenheit der Toten, dessen Folgen bis heute nachwirken.

Hochspannung und psychologische Finesse aus dem Land der Gletscher und Vulkane

»Nordic Noir-Fans werden das Debüt der Isländerin Eva Björg Ægisdóttir lieben.« Ann Cleeves

erscheint am 12.01.2023

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AKRANES 1989

Sie konnte nie so recht sagen, wann genau es angefangen hatte. Es war nach und nach passiert. Wie etwas, das man erst im Nachhinein bemerkt, wenn beim Zurückblicken alles anders ist. So kam es Elísabet vor. Sie erinnerte sich an die Zeit, bevor alles auf die schiefe Bahn geraten war. Als Papa noch lebte und sie keine Angst hatte. Aber die Erinnerung war fern, wie ein Traum. Wenn sie einen Zeitpunkt und einen Ort nennen müsste, wäre es wahrscheinlich der Tag, an dem ihr kleiner Bruder starb. Sie erinnerte sich gut daran. Mamas Schreie und die Leute, die danach kamen, dieselben Leute, die schon nach Papas Tod gekommen waren. Immer zwischen Tür und Angel, mit leisen Stimmen und Tränen in den Augen. Sie erinnerte sich auch an den kleinen Körper, wie er reglos im großen Bett gelegen hatte. Aber vielleicht stimmte das gar nicht. Vielleicht hatte es schon mit Papas Verschwinden begonnen. Elísabet war nicht sicher, und eigentlich spielte es auch keine Rolle. Alles war anders, weil Mama anders war. Erst dachte sie, Mama wäre krank. Das war, als sie tagsüber nicht aus dem Bett aufstand und nur schlief. Wenn es Tag war, schlief sie, und nachts auch. Elísabet wusste nicht genau, was sie tun sollte. Anfangs versuchte sie noch, bei Mama zu klopfen und sie zu fragen. Was würde es zum Essen geben? Was sollte sie anziehen? Dürfte sie nach draußen spielen gehen? Aber als keine Antworten kamen, hörte sie irgendwann auf zu klopfen. Wenn sie Hunger hatte und es kein Essen gab, ging sie rüber zu Solla. Und eines Tages stand Mama wieder auf. Elísabet saß auf dem Boden und spielte mit Puppen, während Mama sich schön anzog, ihre Haare kämmte und roten Lippenstift auflegte. Sie hatte gute Laune, tanzte zur Musik und zwinkerte ihr zu. Wenn Elísabet gewusst hätte, was alles bevorstand, hätte sie nicht zurückgelächelt. Nachdem Mama sie flüsternd ins Bett gebracht hatte, hörte sie im Erdgeschoss die Haustür zufallen. Sie lag lange still da und lauschte. War Mama weg? Sie kroch unter der Decke hervor und schlich auf Zehenspitzen die Treppe runter, schaute in jedes Zimmer, bis sie schließlich im Wohnzimmer nach Mama rief. Erst leise und dann immer lauter. Aber es kam keine Antwort, sie war allein. Das war, bevor ihr klar wurde, dass es manchmal besser war, allein zu sein. Jetzt wünschte sie, sie könnte einfach allein sein.

____

Hier riecht es ja ekelhaft.« Arna vergrub die Nase in dem dicken Schal um ihren Hals. »Man gewöhnt sich dran. Rauch eine, das überdeckt den Gestank.« Reynir lächelte und reichte ihr eine Zigarette. Arna zögerte. Eigentlich rauchte sie nicht. Sie hatte es erst einmal probiert, als ihre Freundin sich von ihrer Oma, die wie ein Schornstein rauchte, eine Zigarette geklaut hatte. Sie waren zum Meer runtergegangen und hatten Mühe, sie überhaupt anzuzünden. Am Ende schafften sie es doch noch, ein bisschen Rauch in die Lungen zu ziehen, mussten aber stark husten. Danach waren sie sich einig, dass es nicht gut geschmeckt hatte, und versprachen sich gegenseitig, nie mit dem Rauchen anzufangen. Jetzt wollte Arna aber nicht zu viel darüber nachdenken und nahm die Zigarette einfach. Reynir zündete sie an, und Arna paffte, bis sie ordentlich brannte. Kurz darauf war das Auto völlig verqualmt. Arna versuchte, den Rauch ohne Husten in die Lunge zu ziehen, und reichte die Zigarette dann an Reynir zurück. Er öffnete das Fenster, drehte die Musik lauter und lehnte sich im Sitz zurück. Arna sah ihm schwärmerisch dabei zu, wie er den Rauch mit geschlossenen Augen einzog und den Rhythmus der Musik auf sich wirken ließ. Eigentlich hörte sie immer ganz andere Musik. Am liebsten mochte sie Taylor Swift, aber das würde sie vor ihm nie zugeben. Reynir war so cool. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch, aber eigentlich war das überhaupt nicht ihre Art. Mit einem Jungen mitzufahren, den sie kaum kannte. Ihre Eltern dachten, sie wäre bei Hafdís und würde einen Film gucken. Sie ahnten nicht, dass sie mit Reynir hier war. Reynir, der drei Jahre älter war und in den alle Mädchen schon seit der Grundschule verknallt waren. Seit er aufs Gymnasium ging, war er nur noch cooler geworden. Doch er schenkte seinen vielen Verehrerinnen keinen Funken Aufmerksamkeit und hatte es nie getan. Deswegen hatte ihr Herz bei seiner Freundschaftsanfrage auf Facebook einen Sprung gemacht. Sie hatte vor Aufregung gezittert und sofort Hafdís angerufen, um ihr davon zu erzählen. Hafdís hatte sich für sie gefreut, aber gleichzeitig hörte Arna einen Hauch von Eifersucht in ihrer Stimme. Eigentlich war Hafdís diejenige, die am meisten auf Reynir stand. »Kommst du mit rauf in den Leuchtturm?« Reynir warf die Zigarette aus dem Fenster und stieg aus dem Auto, bevor Arna überhaupt antworten konnte. Sie eilte hinter ihm her. Es war gerade erst acht Uhr und trotzdem schon völlig dunkel. Die letzten Tage waren regnerisch und stürmisch gewesen. Darum kam Arna der Abend ungewöhnlich still vor, der Wind hatte sich gelegt, und das Rauschen der Wellen wirkte beinahe einschläfernd. Ein paar wenige Regentropfen fielen zur Erde, und die Meeresluft roch salzig. Dort, wo beim neuen Leuchtturm der Asphalt endete und die Felsen anfingen, wartete Reynir auf sie. Der alte Leuchtturm stand ein wenig vom neuen entfernt, und um dorthin zu gelangen, musste man ein kleines Stück am Meer entlang auf den Felsen gehen. »Halt dich an mir fest. Hier ist es ganz schön rutschig«, befahl er. Arna tat, wie er sagte, und griff schüchtern nach seinem Arm. Zusammen gingen sie zum alten Leuchtturm an der Spitze der kleinen Halbinsel. Arna war schon oft mit ihrem Vater da gewesen. Er interessierte sich für Fotografie und hatte auch Arna damit angesteckt. 

Sie ging sehr gerne raus in die Natur, um Bilder zu machen, und war mit der Zeit richtig gut darin geworden. Obwohl sie noch keine eigene Kamera besaß, die konnte sie sich nicht leisten. Im Sommer hatte sie in der Ferienarbeit bei der Gemeinde gearbeitet und den gesamten Lohn auf ein Sparkonto gelegt, um irgendwann genug für die Kamera ihrer Träume zu haben. Bis dahin benutzte sie die Kamera ihres Vaters. Wenn draußen am Himmel die Nordlichter tanzten, eilten sie oft zusammen aus dem Haus und versuchten das Schauspiel einzufangen. Da kam nicht selten der alte Leuchtturm ins Spiel, denn mit Meer und Nordlichtern im Hintergrund bildete er ein spektakuläres Motiv. Ihr Vater hatte erzählt, es sei der erste Leuchtturm aus Beton an Islands Küsten, gebaut 1918. Der Turm war sogar über die Landesgrenzen hinaus bekannt und zu einem der schönsten Leuchttürme der Welt gewählt worden. Sie überlegte, Reynir davon zu erzählen, aber dann rutschte sie plötzlich auf einem nassen Stein aus. »Ich hab doch gesagt, es ist glatt!« Reynir hielt sie fest und zeigte sein schönes Lächeln. Arna wurde rot und konzentrierte sich auf ihre Tritte, bis sie beim Leuchtturm ankamen. Die Stahltür des Turmes war wie immer unverschlossen. Drinnen angekommen, drehte sich Reynir sofort zu ihr um und drückte sie gegen die Wand. Arna erschrak, sagte aber nichts. Er strich über ihren Körper, rauf und runter. Atmete laut in ihr Ohr, während er mit der anderen Hand an ihre Brust griff. »Bist du noch Jungfrau?«, flüsterte er. Arna nickte, nicht sicher, wie sie so eine direkte Frage beantworten sollte. Reynir schien zufrieden mit der Antwort und küsste sie auf den Mund. Mit einer Hand stützte er sich über Arna an der Wand ab, während die andere immer weiter an ihrem Körper nach unten wanderte. Die Küsse wurden nasser und intensiver. Arna bekam kaum Luft und war nicht sicher, ob sie das alles wirklich gut fand. Sie hatte natürlich auf einen Kuss gehofft. Aber in ihrer Vorstellung war es ein romantischer und zärtlicher Kuss gewesen, am Ende des Abends, kurz bevor sie aus dem Auto stieg. Erst hätten sie über Gott und die Welt geredet. Und dann hätte er sie nach Hause gebracht (aber natürlich etwas weiter weg geparkt), und sie hätte die Tür geöffnet und etwas gesagt wie: Danke für den kleinen Ausflug. Dann hätte er nach ihrer Hand gegriffen und gesagt: Sollen wir das nicht morgen wieder machen? Sie hätte geantwortet: Vielleicht – nur, um ihn hinzuhalten. Dann hätte er vielleicht sogar gesagt: Bekomme ich einen Kuss, bevor du gehst? Sie stellte sich vor, wie sie erst gezögert, schließlich aber seinem Drängen nachgegeben und sich zu ihm gelehnt hätte. Ihre Lippen hätten sich berührt. Ganz langsam. Schön und zärtlich. Sogar mit ein bisschen Zunge am Ende. Dann hätte sie den Kuss beendet und wäre ohne weitere Worte aus dem Auto gestiegen. Sie sah ihn vor sich, wie er sich dann mit geschlossenen Augen im Sitz zurückgelehnt hätte und an sie gedacht hätte, so wie vorhin beim Musikhören. Aber dieser Kuss war nicht einmal ansatzweise so. Stattdessen stand sie ungemütlich gegen eine kalte Wand gedrückt, während er sie begrapschte und seine Zunge in ihren Mund steckte, sodass sie kaum noch Luft bekam. Ihr war kalt, sie war nass und es roch komisch. »Hast du das gehört?«, fragte sie plötzlich. Sie dachte, sie hätte oben im Leuchtturm ein Geräusch vernommen, war sich aber nicht sicher. Wahrscheinlich hatte sie es sich eingebildet, aber sie nutzte trotzdem die Gunst des Augenblicks und löste sich aus Reynirs Griff. »Was?« »Ich glaube, da oben ist jemand.« Arna blickte die Treppe hinauf. Sie wusste, dass Jugendliche oft abends hierherkamen, aber auf dem Parkplatz hatten sie keine Autos gesehen, deshalb waren sie davon ausgegangen, sie seien allein. »Ich hab nichts gehört«, sagte Reynir und wollte den nassen Kuss fortsetzen. »Nein, ich bin sicher, dass ich was gehört habe.«

Arna sah schnell zu Boden, um nicht noch einmal einer Zungenattacke ausgesetzt zu sein. Ihr tat jetzt schon der Kiefer weh. Bevor er weitermachen konnte, wandte sie sich von ihm ab und huschte die Treppe hinauf. Ihre Schritte hallten wider. Dem Leuchtturm war anzusehen, dass die Dorfjugend sich gerne dort aufhielt. Überall lagen Cola-Dosen und Zigarettenstummel herum. Die Farbe löste sich von den Wänden und der grünen Treppe. Oben angekommen, beugte sie sich über das Geländer. Da war niemand. Aber sie war sicher, etwas gehört zu haben. Der Mond tauchte die Wellen bei den Felsen in ein schummriges Licht. Arna zog ihre Jacke enger um sich und blickte über das Meer. »Tja, ich hab doch gesagt, da war nichts«, sagte Reynir, der nach ihr in aller Ruhe die Treppe nach oben getrottet war. »Was ist das eigentlich?« Sie kniff die Augen zusammen und deutete auf die Felsen beim Meer. »Was denn? Ich sehe nichts.« Reynir blickte zu den Felsen rüber. »Sieht nach einem Fell aus.« Arna lief es kalt den Rücken hinunter. »Meinst du, da liegt vielleicht ein Tier? Das müssen wir uns genauer ansehen.« »Kommt nicht infrage. Ich fasse sicher keine tote Katze an.« Reynir verzog das Gesicht, aber Arna reagierte nicht darauf, lief die Treppe hinunter und ging vorsichtig über die Felsen zu der Stelle, wo sie das Tier vermutete. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Hatte sie nicht eine Bewegung gesehen? Das könnten natürlich genauso gut die Wellen gewesen sein, die das Fell hin und her wiegten. Sie war nicht sicher. Die dunkle Nacht war nur vom Mond erleuchtet, und der kalte Nieselregen drang durch ihre dünne Jacke. Als Arna sich bis zum Felsen vorgetastet hatte, hielt sie inne und sah auf das Meer direkt unter ihr. Sie hörte Reynir in der Ferne etwas rufen, aber das Meer verschluckte die Stimme. Was sie gesehen hatte, war kein Tierfell, sondern die Haare einer Frau, die sich ruhig im Takt der Wellen bewegten.

* * *

Aðalheiður saß nach vorne gebeugt am Steuer und konzentrierte sich auf die Straße. Ein Auto nach dem anderen überholte sie, aber Aðalheiður ließ sich davon nicht verunsichern und fuhr in gleichmäßigem Tempo über die Bundesstraße. »Mama, du weißt schon, dass man hier neunzig fahren darf.« Elma seufzte, als wieder ein Auto überholte und der Fahrer ihnen einen bösen Blick zuwarf. »Man kann auch eine Gefahr für den Verkehr sein, wenn man zu langsam fährt«, fügte sie hinzu und musste über den konzentrierten Blick ihrer Mutter lachen. »Neunzig ist die Höchstgeschwindigkeit bei idealen Bedingungen, meine Liebe«, antwortete Aðalheiður ruhig, aber bestimmt. »Bei Regen und Sturm ist das anders. Gerade du solltest das wissen, du bist doch bei der Polizei.« Elma schwieg und sah aus dem Fenster. Ihre Mutter hatte ja recht, das Sturmtief, das gerade übers Land zog, rüttelte immer wieder kräftig am Auto, was zur Folge hatte, dass ihre Mutter noch langsamer fuhr. Die gefrorene Fahrbahn vom Morgen war aufgetaut, und große, schwere Tropfen schmetterten gegen die Scheibe. Elma war an dem Morgen früh aufgewacht, obwohl es am Abend davor spät geworden war. Sie hatte sich ein wenig gewundert, als Begga sie am Nachmittag zu sich nach Hause eingeladen hatte, um sich Tinder anzusehen, als wäre das eine völlig normale Beschäftigung an einem Samstagabend. Ihr blieb keine Zeit, sich eine Ausrede zu überlegen, also willigte sie ein. Vielleicht lag es auch am Rotwein, aber sie hatte seit Langem nicht mehr so viel gelacht. Vage erinnerte sie sich daran, spät am Abend ins Bett gekrochen zu sein. Als sie aufwachte, raste ihr Herz, der Kopf war schwer und ihr war übel. Normalerweise trank sie nicht viel, und während sie so an der Bettkante saß, erinnerte sie sich wieder daran, warum das so war. Eine eiskalte Cola beruhigte den Magen vorerst. Sie warf noch zwei Schmerztabletten ein, legte sich in die Badewanne, und danach fühlte sie sich schon ein wenig besser. Es war ein schöner Morgen gewesen. Kalt, aber windstill. Sie hatte beschlossen, einen Spaziergang durch den Ort zu machen. War bis ins Zentrum gegangen, zu Kallis Bäckerei, wo sie sich einen Donut und ein Sandwich kaufte, das sie mit einem Kakao runterspülte. Die Bäckerei hieß eigentlich Brot- und Kuchenstube, aber in Akranes sprachen alle nur von Kallis Bäckerei. Dort gab es hausgemachte Donuts und himmlische Eclairs – ein Gebäck aus Brandteig mit Vanillecremefüllung und Karamellglasur. In Reykjavík gab es keine Konditorei, die es mit Kallis aufnehmen konnte, fand Elma. Es war früh am Morgen und noch dunkel gewesen. Sie hatte an dem Donut geknabbert, während sie an der Landungsbrücke entlang nach Hause spaziert war und die Namen der kleinen Fischerboote gelesen hatte, die im stillen Meer ruhig hin und her schaukelten. Dann ging sie bei Langisandur zum Strand runter, wo die Ebbe an dem Morgen besonders niedrig war. Als sie dort entlangging, lugte die Sonne hervor, sodass der Sand richtig schön glitzerte. Wenn es etwas gab, auf das der Ort stolz sein konnte, dann auf diesen Strand. Ein heller Sandstrand, der an schönen Sommertagen zum Badestrand wurde, wo die Bewohner sich sonnten und die Kinder ins Meer hinauswateten. Sie ging gerade an ihrer alten Grundschule vorbei, als ihre Mutter anrief und sagte, sie solle sich bereit machen, sie würden eine kleine Shoppingtour nach Reykjavík machen. Elma hatte nicht wirklich Lust auf einen Einkaufstrip, willigte aber zögerlich ein. Der Wind war langsam aufgezogen, und kleine Regen tropfen fielen aus den Wolken, die plötzlich den ganzen Himmel bedeckten. Ihre Mutter hatte schon recht, sie brauchte einige Sachen, aber vor allem Kleinkram; Geschirr und Besteck. Mittlerweile war sie die Pappteller leid und musste sich langsam etwas besser einrichten.

»Wollen wir erst noch was essen? Mit leerem Magen sollte man nicht einkaufen gehen«, sagte Aðalheiður gut gelaunt auf dem Weg nach Reykjavík. »Mittlerweile gibt es da ein tolles Restaurant, das ist wirklich gut. Wir könnten sogar ein Gläschen Wein zum Essen trinken.« »Das ist das Letzte, worauf ich momentan Lust habe«, sagte Elma, musste aber lachen. Ihre Mutter hatte an diesem Morgen ungewöhnlich gute Laune. Sang mit dem Radio mit und warf Elma auf dem Beifahrersitz immer wieder einen Blick zu. »Ach, es war also noch richtig lustig bei dir gestern?«, fragte sie mit einem Augenzwinkern. Elma zuckte mit den Schultern. »War ganz nett.« »Ach gut, schön, dass du Spaß hattest.« Elma antwortete nicht. Der Gedanke daran, neue Möbel zu kaufen, war irgendwie so überwältigend. Als würde sie damit ein ganz neues Kapitel in ihrem Leben beginnen. Vor nicht allzu langer Zeit, ein paar Jahre höchstens, war sie fast jedes Wochenende mit Davíð losgefahren, um etwas Schönes für die gemeinsame Wohnung zu kaufen. Akranes war schon lange nicht mehr ihr Zuhause gewesen. Mit zwanzig war sie in die Hauptstadt gezogen, bereit, auf eigenen Beinen zu stehen. Und sie hatte nicht vorgehabt, jemals wieder zurückzuziehen. Das Dorfleben war nie ihr Ding gewesen. Sie sehnte sich nach der Abwechslung, die Reykjavík zu bieten hatte. Wollte neue Leute kennenlernen, neu anfangen. Dann hatte sie Davíð kennengelernt, und das Leben war gut. Für eine Weile jedenfalls. Aber jetzt war sie doch wieder in Akranes gelandet und auf dem Weg, Möbel für ihr neues Zuhause zu kaufen. Oder das alte, je nachdem, wie man es sah »Du bist irgendwie so nachdenklich«, sagte ihre Mutter und sah sie an. »Ich überlege nur«, antwortete Elma. »Das soll ja eigentlich nicht schaden. Nachzudenken.« »Probier es mal aus«, antwortete Elma und lächelte gutmütig. »Aber ich bin auch müde. Ich habe heute Nacht nicht so gut geschlafen.« »Wie läuft es auf der Arbeit?«, fragte Aðalheiður. Sie stellte jeden Tag dieselben Fragen. Elma hatte nie viel zu erzählen, und außerdem durfte sie auch gar nicht so viel sagen. Bei der Kripo Vesturland hatten sie es vor allem mit Verkehrsunfällen zu tun. Obwohl sie letzten Mittwoch auch mal wegen eines Einbruchs gerufen wurden. Ein älteres Paar hatte bemerkt, dass jemand das Fenster zu ihrer Garage aufgebrochen hatte. Elma war mit Sævar hingefahren und hatte das Paar getroffen, sie waren beide schon über achtzig. In der Garage fehlte nichts, also war der Fall ungelöst und würde es wahrscheinlich auch weiterhin bleiben. Elma vermutete, dass der Mann das Fenster wahrscheinlich selbst aufgebrochen hatte, denn er schien sich nicht länger als ein paar Minuten an irgendetwas zu erinnern und wiederholte ständig dieselben Fragen. »Es läuft ganz gut, nichts Außergewöhnliches«, antwortete sie. »Ich hoffe, Hörður behandelt dich anständig«, sagte Aðalheiður. »Es war nett von ihm, dir diese Stelle zu besorgen. Er und dein Vater waren mal enge Freunde. Auch wenn er früher ganz anders war, es gab eine Zeit, da hat er jeden unter den Tisch getrunken, aber als er die Stelle bei der Polizei bekam, hat er damit aufgehört. Dein Vater findet, dass er sich in der Arbeit manchmal ein bisschen zu sehr aufspielt.« »Hörður war ein Saufbold?«, fragte Elma verwundert. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Hörður jemanden unter den Tisch trank. »Ja, klar, er war ausgesprochen trinkfreudig. Seit er bei der Polizei ist, hat er sich aber sehr verändert. Erzähl es nicht weiter, aber dein Vater meint, er sei mit der Zeit ein ziemlicher Lahmarsch geworden. Dass er sich nicht traue, die schwierigen Fälle anzugehen, weil ihm sein Ansehen im Ort so wichtig sei.« Aðalheiður grinste. »Aber freut mich zu hören, dass es gut läuft. Du wirst dich sicher schnell einleben. Du bist ja eine Einheimische.« »Es ist schon in Ordnung, nur ein bisschen ruhig. Ganz anders als die Arbeit in der Stadt. Ich hoffe, es gibt genug zu tun.« Elma blickte aus dem Fenster über den Fjord Kollafjörður kurz vor Reykjavík. Der Sturm brachte eine Unruhe in die graue Meeresoberfläche. »Es gibt immer was«, antwortete ihre Mutter und zuckte mit den Schultern. »Die Fälle sind nur vielleicht etwas anders.« Elma nickte. Vielleicht war etwas Abwechslung ja genau das, was sie brauchte. 

Das Möbelgeschäft war voller Menschen. Sie schlenderten herum und sahen sich die fertig eingerichteten Schauräume an. Aðalheiður blieb bei jeder Auslage stehen, nahm Dinge in die Hand und setzte sich auf die Sofas. Ein paar Stunden später kauften sie eine neue Couch, das war zwar nicht der Plan gewesen, aber Elma hatte sich von ihrer Mutter überreden lassen. Ihr hätte das alte Schlafsofa aus dem Gästezimmer der Eltern gereicht. Außerdem kauften sie noch zusätzlich einen Nachttisch und allerlei Kleinkram, von dem ihre Mutter behauptete, er würde die Wohnung gleich viel heimeliger machen. An der Kasse hielt Aðalheiður sie zurück und reichte ihre eigene Karte zur Bezahlung hin. »Ein Vorschuss aufs Erbe«, sagte sie und zwinkerte ihr zu. Tränen sammelten sich in Elmas Augen, aber sie wandte den Blick schnell ab. Sie war eigentlich nicht nah am Wasser gebaut, aber aus irgendeinem Grund hatte sie jetzt einen Kloß im Hals. Ihre Stimme klang immer noch etwas komisch, als sie wenige Minuten später ans Handy ging. Sie stand mit vollen Einkaufstüten am Ausgang und wartete darauf, dass ihre Mutter mit dem Auto vorfuhr. In der Zwischenzeit war es Abend geworden und bereits dunkel draußen. »Hallo«, sagte sie mit schwacher Stimme, nachdem sie mit Mühe rechtzeitig das Handy aus der Tasche gekramt hatte. Es war Hörður. »Hallo, Elma, hier ist was passiert. Wie schnell kannst du zum Leuchtturm kommen?«

Eva Björg Ægisdóttir über »Verschwiegen«

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Leifur Wilberg

Wieso ist Akranes/Island so ein guter Schauplatz für einen Krimi?

Ich glaube, ich habe erst nach dem Schreiben verstanden, dass Akranes wirklich der perfekte Ort für einen Krimi ist. Es ist weder zu klein noch zu groß. Als ich dort aufgewachsen bin, lag die Einwohnerzahl bei ca. 4.000 (inzwischen ist sie doppelt so hoch). Deshalb gibt es dort diese starken Verbindungen zwischen Menschen und ich stelle mir vor, dass Kommissar:in in einer Stadt zu sein, in der jeder jeden kennt, sehr herausfordernd ist. Akranes ist außerdem nicht zu weit entfernt von der Hauptstadt Reykajvík und hat sogar ein eigenes Ermittlungsteam, bestehend aus drei Personen, die für den Westen von Island verantwortlich sind. Es hat mir viel Spaß gemacht, einige der schönsten Landschaften Islands als Tatorte zu verwenden.

 

Woher haben Sie die Inspiration für Ihre Hauptfigur Elma genommen und wie würden Sie sie charakterisieren?

Ich wollte, dass Elma anders ist, als die typische alkoholabhängige Kommissarin mittleren Alters. Das scheint inzwischen ein Klischee für Kriminalromane geworden zu sein (ein lustiges!). Ich wollte einen sehr realen Charakter mit Schwächen und Unvollkommenheiten schaffen, mit dem man sich identifizieren kann.

Elma kann schüchtern sein, aber sie ist auch sehr entschlossen, neugierig und sympathisch. Sie folgt nicht immer den Regeln, sondern vielmehr ihrem Instinkt. Da sie es als Teenagerin schwer fand in Akranes zu leben und sich eigentlich dazu entschied nie wieder zurückzuziehen, ist ihre Rückkehr für sie auch eine Reise zu sich selbst.

 

Welche Rolle spielen Elmas Kollegen Sævar und Hörður? In welcher Beziehung stehen sie miteinander?

Hörður ist Elmas Chef und repräsentiert den stereotypen Einwohner von Akranes. Er liebt die Stadt und missbilligt Reykjavík. Da er sehr stolz darauf ist aus Akranes zu kommen, ist er der Überzeugung, dass es keinen besseren Ort als diesen gibt.

Sævar hingegen ist ein Außenseiter und erst in seinen späten Teenagerjahren nach Akranes gezogen. Er ist Elmas erster Freund im Präsidium und zwischen den beiden entwickelt sich eine sehr enge Beziehung.

 

In Ihrem Buch tauchen wir tief ein in die Gedankenwelt der Figuren und lernen einiges über ihre Vergangenheit und ihre persönlichen Motive. Woher rührt Ihre Kenntnis der menschlichen Psyche?

Ich denke, das kommt von meinem großen Interesse an Menschen im allgemeinen, den Motiven die sie antreiben und wie Erfahrungen ihr Handeln beeinflussen. Das Warum ist der interessanteste Teil von Kriminalromanen; nicht das Verbrechen selbst, sondern der Mensch hinter dem Verbrechen. Ich habe einen Abschluss in Soziologie und Kriminologie, da es mich schon immer fasziniert hat Menschen zu studieren, besonders von der Norm abweichendes Verhalten und der Frage nachzugehen, ob Menschen so geboren wurden wie sie sind, oder ob sie durch ihre Umgebung zu dem gemacht wurden der sie sind.

Kriminalromane sind eine perfekte Möglichkeit, über Menschen und die Gesellschaft zu schreiben, da sie sich oft auf das Verbrechen als Konsequenz gesellschaftlichen Versagens konzentrieren. Häufig bleibt es unklar, was Gerechtigkeit ist, wen man bestrafen soll und was das wahre Verbrechen ist.

 

Der zweite Teil der Serie Verlogen erscheint im August dieses Jahres – worauf dürfen wir gespannt sein?

Hoffentlich auf ein Buch das die Leser:innen fesselt und überrascht! Und natürlich noch mehr schöne Isländische Kulisse mit einer Leiche, die nach sieben Monaten im Boragarfjörður Lavafeld gefunden wird…

 

 

Paperback 17,00 €
E-Book 9,99 €
Taschenbuch 13,00 €

Möderisches Island - Die Reihe

  • Verschwiegen
    Eva Björg Ægisdóttir

    Verschwiegen

    Im ersten Band ihrer Krimi-Reihe führt uns Eva Björg Ægisdóttir in die isländische Kleinstadt Akranes. Jede*r kennt jede*n, das Leben verläuft einigermaßen ereignislos, bis eines Tages eine unbekannte Tote die beschauliche Kleinstadtidylle gehörig durcheinanderbringt. 

    Als ...

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  • Verlogen
    Eva Björg Ægisdóttir

    Verlogen

    Ein vermeintlicher Suizid wird zum mysteriösen Mordfall für Kommissarin Elma und ihr Team – der zweite Teil der preisgekrönten isländischen Krimiserie von Eva Björg Ægisdóttir

    Im Spätherbst wird in einem Lavafeld in Westisland eine Leiche entdeckt. ...

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Eva Björg Ægisdóttir ist Jahrgang 1988 und lebt mit ihrem Partner und drei Kindern in Reykjavík. Sie ist in Akranes geboren und aufgewachsen, der Stadt, in der ihre Krimis spielen. Nach ihrem Abschluss in Soziologie zog sie nach Trondheim in Norwegen, wo sie einen Master in Globalisierung machte. Für ihren ...

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