(2) Noch schlimmer war der Videophonstress für eitle Zeitgenossen. Für Leute, die sich Gedanken machten, wie sie ankamen. Bei anderen ankamen. Und mal ehrlich, die macht sich doch jeder. Den guten alten akustischen Telefonaten konnte man sich ohne Make-up, Toupet, künstliche Gliedmaßen usw. stellen. Selbst ohne Kleidung, wenn so was einem den Säbel zum Rasseln brachte. Aber für imagebewusste Menschen gab es natürlich keine spontanen und informellen Videophonanrufe, die von Konsumenten auch immer weniger mit dem guten alten Klingeln des Telefons in Verbindung gebracht wurden als vielmehr mit einem Klingeln an der Wohnungstür, wo man vor dem Öffnen rasch Prothesen befestigen, Kleider anziehen und im Flurspiegel die Frisur richten musste. Es war jedoch das Aussehen der Gesichter der Teilnehmer auf ihren TP-Bildschirmen während der Gespräche, das der Videophonie den letzten Nagel in den Sarg trieb. Nicht die Gesichter der Gesprächspartner, sondern die eigenen. Es war im Grunde eine Dreieckskonstellation, wenn man die Video-Record-Option der TPPatronenkarte einschaltete, beide Pulse des zweiseitigen optischen Videophonats aufzeichnete, sich das Videophonat noch einmal ansah und feststellte, wie das eigene Gesicht am anderen Ende der Leitung ausgesehen hatte. Gegen diesen Wirkungscheck war man so machtlos wie gegen einen Blick in den Spiegel. Die Erfahrung erwies sich indes als nahezu universal schockierend. Die Menschen waren entsetzt darüber, wie ihre Gesichter auf einem TP-Bildschirm aussahen. Es war mehr als nur »Moderatorenfeistheit«, der bekannte Eindruck zusätzlicher Masse auf gefilmten Gesichtern. Es war schlimmer. Auch bei hochauflösenden TP-Bildschirmen der Spitzenklasse fanden die Konsumenten ihre Telefoniergesichter verschwommen und feucht, sie entdeckten eine glänzende, fahle Unklarheit, die sie nicht nur wenig schmeichelhaft fanden, sondern auch irgendwie ausweichend, verschlagen, zwielichtig, unsympathisch. In einer frühen und dubiosen Testgruppenbefragung von InterLace/G.T.E., die in einem Sturm unternehmerischen Sci-Fi-Technikrauschs unterging, beschrieben fast 60% der Probanden, die bei Videophonaten ihre eigenen Gesichter zu sehen bekommen hatten, diese mit Vokabeln wie nicht vertrauenswürdig, unsympathisch oder schwer zu mögen, wobei phänomenal dubiose 71% der älteren Mitbürger unter den Probanden spezifische Ähnlichkeiten ihrer Videogesichter mit dem von Richard Nixon beim Wahlkampfduell mit John F. Kennedy im Fernsehen 1960 v.SZ sahen. Das Ende der von den psychologischen Experten der Telekommunikationsindustrie sogenannten Video-Physiognomischen Dysphorie (VPD) markierte bekanntlich das Aufkommen der Hochauflösenden Teilabdeckung; und die Unternehmer, die ihre Hemden sowie satte Nettogewinne nach Steuern durch die kurzlebige Videophonära retteten, waren denn auch diejenigen, die früh zur hochauflösenden Videophonischen Bildbearbeitung tendiert hatten. Was die Abdeckung betraf, wurde die anfängliche Option der Hochauflösenden Fotografischen Bildbearbeitung, bei der die schmeichelhaftesten Elemente mehrerer schmeichelhafter und aus mehreren Winkeln aufgenommener Fotografien eines gegebenen VideophonKonsumenten ausgewählt und – mittels bereits vorhandener Bildbearbeitungssoftware, bei deren Entwicklung die Kosmetik- und die Strafverfolgungsindustrie Pionierarbeit geleistet hatten – zu einer hochattraktiven, hochaufgelösten und sendefähigen Montage eines Gesichts kombiniert wurden, das den ernsthaften, leicht übertriebenen Ausdruck ungeteilter Aufmerksamkeit zeigte, schnell abgelöst von der kostengünstigeren und byte-ökonomischeren (und auf dieselbe Software von Kosmetik und FBI zurückgreifenden) Option des tatsächlichen Abgießens des nachbearbeiteten Gesichtsbildes in eine passgenaue Polybutylenharzmaske, und die Konsumenten ließen sich schnell davon überzeugen, dass eine dauerhaft zu tragende Maske die hohe Anfangsinvestition mehr als wert war, wenn man die Stress- und VPD-Reduktionsfaktoren bedachte, und die praktischen Klettverschlüsse für die Rückseite der Maske und den Hinterkopf ihres Trägers bekam man sowieso fast geschenkt; einige Geschäftsquartale lang konnten die Videophon-/Kabelunternehmen das Vertrauen VPD-geplagter Konsumenten zurückgewinnen, indem sie ihnen horizontal integrierte Verträge anboten, bei denen Anfertigung und Wartung der Masken bei Videophonneuanschlüssen inbegriffen waren. Wenn die hochauflösenden Masken nicht in Gebrauch waren, hingen sie einfach an kleinen Haken seitlich an der TP-Fonkonsole, was eingestandenermaßen ein bisschen surreal und verstörend aussehen mochte, wie sie abgestreift, leer und faltig dahingen, und manchmal kam es in größeren Familien oder bei Firmenfonen zu potenziell peinlichen Verwechslungen, wenn jemand in der Hast aus der langen Reihe dahängender leerer Masken die falsche nahm und aufsetzte – aber im Großen und Ganzen schienen die Masken anfangs ein brauchbarer Ausweg zu sein, um die Eitelkeits-, Stress- und Nixongesichts-Imageprobleme in den Griff zu bekommen. (2 und vielleicht auch 3) Koppelt man jedoch den natürlichen Unternehmerinstinkt, alle ausreichend wichtigen Konsumentenbedürfnisse zu befriedigen, mit der anscheinend ubiquitär verzerrten Selbstwahrnehmung der Menschen, kann man die Geschwindigkeit historisch begründen, mit der die ganze hochauflösende-Videophonische-Maskenkiste total außer Kontrolle geriet. Es ist nicht nur unheimlich schwer, das eigene Aussehen – ob attraktiv oder nicht – einzuschätzen (stellen Sie sich beispielsweise mal vor einen Spiegel und versuchen Sie, Ihre Position in der Attraktivitätshierarchie mit derselben objektiven Mühelosigkeit festzustellen, mit der Sie bei so gut wie allen Bekannten feststellen, ob er oder sie attraktiv ist oder nicht), sondern wie sich herausstellte, hatte die instinktiv verzerrte Selbstwahrnehmung der Konsumenten im Verbund mit eitelkeitsinduziertem Stress zur Folge, dass man Videophonmasken erst vorzog und dann ungeniert forderte, die sehr viel attraktiver waren als man selbst. Hersteller hochauflösender Masken, die willens und in der Lage waren, nicht nur wahrheitsgetreue, sondern darüber hinausgehende ästhetische Bildbearbeitungen zu liefern – ausgeprägtere Kinne, kleinere Tränensäcke, wegretuschierte Narben und Falten –, verdrängten die Hersteller mimetischer Masken schon bald vom Markt. Auf zunehmend entsubtilisierte Weise nutzten die meisten Konsumenten nach einigen weiteren Geschäftsquartalen Masken, die am Videophon so unbestreitbar viel besser aussahen als ihre echten Gesichter, und sandten einander so horrend verzerrte und geschönte Maskenbilder ihrer selbst, dass dies wiederum für enormen psychosozialen Stress sorgte, denn scharenweise trauten sich Fonnutzer plötzlich nicht mehr auf die Straße und verweigerten Konnexionen von Angesicht zu Angesicht, weil sie Angst hatten, Menschen, die sich an die weit besser aussehenden Maskenversionen ihrer selbst gewöhnt hatten, würden (so die Phobie der Teilnehmer) bei persönlichen Begegnungen eine alle Illusionen zerschmetternde ästhetische Enttäuschung durchmachen, wie man sie beispielsweise erlebt, wenn man gewisse stets geschminkte Frauen erstmals ohne Make-up sieht. Die an dieses Phänomen sich anlagernden sozialen Ängste wurden von den Psychoexperten auf den Begriff Optimistisch Entstellende Maskierung (OEM) gebracht, und diese nahm kontinuierlich zu, als die primitiven kleinen Videophonkameras der ersten Generation durch Geräte mit größerer Blende abgelöst wurden und die leistungsfähigeren Kleinkameras mehr oder weniger Ganzkörperbilder aufnehmen und übermitteln konnten. Psychologisch skrupellose Unternehmer vermarkteten daraufhin zweidimensionale Ganzkörperfiguren aus Polybutylen und Polyurethan – ähnlich den kopflosen Pappfiguren von Muskelprotzen und Badegrazien, hinter denen man am Strand in Position gehen, das Kinn auf den Halsstumpf aus Pappe betten und sich fotografieren lassen konnte, nur waren diese Videophon-Ganzkörpermasken technologisch weit raffinierter und sahen weit echter aus. Schlug man noch die Kosten für wechselnde zweidimensionale Garderobe, verschiedene Haar- und Augenfarben sowie diverse ästhetische Vergrößerungen und Verkleinerungen drauf, erreichte man bald die Grenzen der Erschwinglichkeit für die breite Masse, auch wenn gleichzeitig ein unglaublicher Gruppenzwang herrschte, sich das beste verfügbare zweidimensionale Körperbild anzuschaffen, um nicht mehr das Gefühl zu haben, am Videophon vergleichsweise scheußlich auszusehen. Nicht weiter verwunderlich, dass der unnachgiebige unternehmerische Drang zu immer überzeugenderen Simulationen schon bald das Übertragbare Tableau (ÜT) hervorbrachte, das im Rückblick der wirklich spitze Videophonische Sargnagel gewesen sein dürfte. Hatte man ein ÜT, brauchte man gar keine Gesichts- oder Körpermasken mehr, sondern ersetzte sie durch ein per Video erfasstes und übermitteltes massiv manipuliertes Standbild, das einen unglaublich sportlichen, attraktiven und gewinnenden Menschen zeigte, der mit dem tatsächlichen Teilnehmer nurmehr entfernte Ähnlichkeiten in puncto Rassezugehörigkeit und Gliederzahl aufwies und der vor dem Hintergrund eines prächtigen, aber nicht protzigen Raums, der am besten dem selbstgewählten Image entsprach, aufmerksam in Richtung der Videophonkamera blickte. Die Tableaus waren einfach qualitativ hochwertige und sendefähige Fotografien mit maßstabsgerecht verkleinerten dioramenhaften Proportionen, die mit einem Plastikhalter ähnlich einem Objektivschutz vor der Videophonkamera befestigt wurden. Extrem gut aussehende, aber nicht sonderlich erfolgreiche Unterhaltungsstars – die Sorte, die in früheren Jahrzehnten die Besetzungslisten von Infomercials aufgebläht hätte – waren plötzlich gefragt als Models für verschiedene leistungsfähige Videophontableaus. Weil man nur noch schlichte sendefähige Fotografien und keine digitale Bildbearbeitung und -aufbereitung mehr brauchte, konnten die Tableaus vergleichsweise preisgünstig und in Massen produziert und auf den Markt geworfen werden, und für kurze Zeit halfen sie tatsächlich, die Spannung zwischen der Kostenbelastung durch Körpermasken und dem monströsen ästhetischen Druck zu vermindern, den die Videophonie auf Teilnehmer ausübte, ganz zu schweigen von den dadurch geschaffenen Arbeitsplätzen für Bühnenbildner, Fotografen, Retuscheure und Stars auf Infomercialniveau, die seit dem Niedergang der Fernsehwerbung keine großen Sprünge mehr machen konnten.