Kiwi-Leaks

David Foster Wallace: Videophonie

aus »Unendlicher Spaß«

OBWOHL SICH IN DEN ANFANGSTAGEN VON INTERLACES VERNETZTEN TELEPUTERN, DIE GROSSENTEILS MIT DENSELBEN DIGITALFASER-GRIDS ARBEITETEN WIE DIE TELEFONGESELLSCHAFTEN, DAS NEU EINGEFÜHRTE BILDTELEFONIEREN (ALIAS »VIDEOPHONIE«)
BEI DEN KONSUMENTEN ENORMER BELIEBTHEIT ERFREUTE UND DIE TEILNEHMER VON DER VORSTELLUNG KOMBINIERTER AKUSTISCHER WIE OPTISCHER TELEFONVERBINDUNGEN (WOBEI DIE KLEINEN TONBILDKAMERAS DER ERSTEN GENERATION ZU PRIMITIV WAREN UND ZU KLEINE BLENDEN HATTEN, UM MEHR ALS NAHAUFNAHMEN VON GESICHTERN ZU MACHEN) MITTELS DER TELEPUTER DER ERSTEN GENERATION BEGEISTERT WAREN, DIE DAMALS ALLERDINGS KAUM MEHR WAREN ALS HIGH-TECHFERNSEHGERÄTE, DIE INDES IMMERHIN ÜBER DAS KLEINE »INTELLIGENTE PROGRAMM« VERFÜGTEN, EIN HOMUNKULARES ICON, DAS WÄHREND EINER ÄTHER- ODER KABELSENDUNG IN DER RECHTEN UNTEREN ECKE AUFTAUCHTE UND EINEN ÜBER UHRZEIT UND AUSSENTEMPERATUR INFORMIERTE, EINEN DARAN ERINNERTE, DAS BLUTDRUCKMITTEL EINZUNEHMEN, AUF EIN BESONDERS FESSELNDES UND GLEICH AUF SAGEN WIR MAL KANAL 491 BEGINNENDES UNTERHALTUNGSANGEBOT ODER ABER EBEN AUF EINEN GERADE EINGEHENDEN VIDEOPHONANRUF HINWIES UND DANN EINEN STEPTANZ MIT KLEINEM STILISIERTEM STROHHUT UND SPAZIERSTÖCKCHEN HINLEGTE, GENAU UNTER EINEM MENÜ MÖGLICHER REAKTIONSOPTIONEN, UND DIE TEILNEHMER LIEBTEN IHRE KLEINEN HOMUNKULAREN ICONS EINFACH – WARUM ALSO KNICKTE BINNEN PI MAL DAUMEN 16 MONATEN ODER FÜNF VERKAUFSQUARTALEN DIE STEIL ANGESTIEGENE NACHFRAGEKURVE NACH »VIDEOPHONIE« PLÖTZLICH AB WIE DIE STANGEN EINES ZERTRAMPELTEN ZELTS, SODASS AM ENDE DES JAHRES DER INKONTINENZ-UNTERWÄSCHE WENIGER ALS 10 % ALLER PRIVATEN TELEFONKONTAKTE VIDEO-BILD-DIGITALFASER-DATEN-TRANSFERS ODER GLEICHARTIGE PRODUKTE UND DIENSTLEISTUNGEN NUTZTEN UND DER DURCHSCHNITTLICHE US-AMERIKA-NISCHE TELEFONNUTZER FAND, DASS DIE ÜBERHOLTE ALTE TELEFONVERBINDUNG DER LOW-TECH-BELL-ÄRA IHM ODER IHR TATSÄCHLICH SCHLUSSENDLICH LIEBER WAR, EINE PRÄFERENZWENDE, DIE SO MANCHEN INNOVATIVEN UNTERNEHMER IN SACHEN VIDEO-TELEFONIE DAS LETZTE HEMD KOSTETE, ZWEI HOCH BONITIERTE INVESTMENTFONDS, DIE VON ANFANG AN STARK AUF DIE VIDEOPHONIETECHNOLOGIE GESETZT HATTEN, DESTABILISIERTE UND UM EIN HAAR DEN FREDDIE-MAC-FONDS DER PENSIONSKASSE DER STAATSANGESTELLTEN VON MARYLAND ZUGRUNDE GERICHTET HÄTTE, DER EINEN VERWALTER HATTE, DESSEN MORGANATISCHER SCHWAGER EIN GERADEZU MANISCH GETRIEBENER VIDEOPHONIE-UNTERNEHMER GEWESEN WAR … WARUM ALSO DER PLÖTZLICHE UMSCHWUNG DER KONSUMENTEN ZURÜCK ZUM GUTEN ALTEN NUR AKUSTISCHEN TELEFONIEREN?

Um die Antwort auf einen trivalenten Punkt zu bringen: (1) emotionaler Stress, (2) körperliche Eitelkeit, (3) eine gewisse schräge autodestruktive Logik in der Mikroökonomie der Konsumenten-Hochtechnologie.

 

(1) Wie sich herausstellte, wiesen visuelle Telefonverbindungen einen exorbitanten Stressfaktor auf, der bei nur akustischen Verbindungen nicht gegeben gewesen war. Videophonkonsumenten stellten auf einmal fest, dass sie beim herkömmlichen, nur akustischen Telefonieren einer heimtückischen, wiewohl raffinierten Täuschung zum Opfer gefallen waren. Diese Täuschung war ihnen nie aufgefallen – emotional war sie dermaßen komplex gewesen, dass man sich ihr erst im Kontext ihres Verlusts stellen konnte. Bei den guten alten traditionellen und nur akustischen Telefongesprächen konnte man sich der Illusion hingeben, der Gesprächspartner schenke einem seine ungeteilte Aufmerksamkeit, während man selbst ihm nicht im entferntesten so aufmerksam zuhören musste. In einem solchen herkömmlichen Gespräch – unter Zuhilfenahme eines normalen Handapparats, dessen Hörmuschel nur 6 kleine Löcher hatte, während die Sprechmuschel (bezeichnenderweise, wie es später schien) (62 ) oder 36 kleine Löcher hatte – ließ man sich auf eine Art autobahnhypnotische, semi-konzentrierte Fugue ein: Während des Gesprächs konnte man sich im Zimmer umschauen, vor sich hinkritzeln, sich kämmen, abgestorbene Häutchen von den Fingernägeln kratzen, auf dem Notizblock neben dem Telefon Haikus dichten und in Töpfen auf dem Herd rühren; man konnte sogar mittels Zeichensprache und übertriebenem Mienenspiel eine zweite Konversation mit zufällig im Raum anwesenden Menschen führen, die ganze Zeit jedoch den Eindruck erwecken, konzentriert der Stimme am Telefon zu lauschen. Aber – und das war im Rückblick der eigentlich großartige Teil – auch wenn man seine Aufmerksamkeit zwischen dem Telefongespräch und allen möglichen anderen fugueähnlichen Tätigkeiten aufteilte, beschlich einen irgendwie trotzdem nie der Argwohn, die Aufmerksamkeit des Menschen am anderen Ende der Leitung könne ähnlich geteilt sein. Führte man beispielsweise bei einem herkömmlichen Telefonat eine akribische haptische Pickelprüfung der Gesichtshaut durch, bedrückte einen keineswegs die Vorstellung, die Gesprächspartnerin könne ebenfalls einen Gutteil ihrer Aufmerksamkeit einer akribischen haptischen Pickelprüfung widmen. Es war eine Selbsttäuschung, die Selbsttäuschung war akustischer Natur und wurde akustisch verstärkt: Die Stimme vom anderen Ende der Telefonleitung war nah, straff komprimiert und wurde einem direkt ins Ohr geleitet, was zu der Annahme berechtigte, die Aufmerksamkeit des Sprechers sei gleichermaßen komprimiert und konzentriert … auch wenn die eigene Aufmerksamkeit das nicht war, der Casus Knacksus des Ganzen. Diese bilaterale Illusion unilateraler Aufmerksamkeit war, von emotionaler Warte aus betrachtet, geradezu infantil beruhigend: Man durfte glauben, in den Genuss der ungeteilten Aufmerksamkeit eines Menschen zu kommen, ohne sie erwidern zu müssen. In der Objektivität des Rückblicks erscheint diese Selbsttäuschung arational, fast fantastisch im Wortsinne: Als könnte man andere Menschen im selben Augenblick belügen und ihnen trauen. Das Videotelefonieren ließ diese Fantasie kollabieren. Teilnehmer merkten jetzt, dass sie dieselbe ernsthafte, leicht übertriebene Zuhörerhaltung einnehmen mussten, wie sie bei persönlichen Begegnungen erforderlich war. Teilnehmer, die aus unbewusster Gewohnheit fugueähnlich vor sich hin kritzelten oder ihre Bügelfalten zurechtzupften, wirkten plötzlich unhöflich, abwesend oder kindisch ichbezogen. Anrufer, die noch unwillkürlicher Pickel prüften oder in der Nase bohrten, blickten hoch und sahen den entsetzten Ausdruck auf den Videogesichtern am anderen Ende der Leitung. All das führte zu Videophonischem Stress. Schlimmer war das traumatische Gefühl einer Vertreibung aus dem Paradies natürlich, wenn man vom Nachzeichnen des Daumenumrisses auf dem Skizzenblock oder dem Zurechtrücken des alten Zeugeschwengels in der Shorts hochblickte und sah, wie die Videophonische Konnektorin das gummierte Ende von einem Schnürsenkel knibbelte, während sie mit einem sprach, und plötzlich einsehen musste, dass die ganze infantile Fantasie, man könne dem Gesprächspartner uneingeschränkte Aufmerksamkeit abverlangen, selbst jedoch fuguekritzeln und Genitallagekorrekturen vornehmen, eine nicht länger aufrechtzuerhaltende Selbsttäuschung gewesen war, und dass man selber keinen Deut mehr Aufmerksamkeit erhielt, als man zollte. Die ganze Angelegenheit war ungeheuer stressig, fanden Videophonnutzer.

(2) Noch schlimmer war der Videophonstress für eitle Zeitgenossen. Für Leute, die sich Gedanken machten, wie sie ankamen. Bei anderen ankamen. Und mal ehrlich, die macht sich doch jeder. Den guten alten akustischen Telefonaten konnte man sich ohne Make-up, Toupet, künstliche Gliedmaßen usw. stellen. Selbst ohne Kleidung, wenn so was einem den Säbel zum Rasseln brachte. Aber für imagebewusste Menschen gab es natürlich keine spontanen und informellen Videophonanrufe, die von Konsumenten auch immer weniger mit dem guten alten Klingeln des Telefons in Verbindung gebracht wurden als vielmehr mit einem Klingeln an der Wohnungstür, wo man vor dem Öffnen rasch Prothesen befestigen, Kleider anziehen und im Flurspiegel die Frisur richten musste. Es war jedoch das Aussehen der Gesichter der Teilnehmer auf ihren TP-Bildschirmen während der Gespräche, das der Videophonie den letzten Nagel in den Sarg trieb. Nicht die Gesichter der Gesprächspartner, sondern die eigenen. Es war im Grunde eine Dreieckskonstellation, wenn man die Video-Record-Option der TPPatronenkarte einschaltete, beide Pulse des zweiseitigen optischen Videophonats aufzeichnete, sich das Videophonat noch einmal ansah und feststellte, wie das eigene Gesicht am anderen Ende der Leitung ausgesehen hatte. Gegen diesen Wirkungscheck war man so machtlos wie gegen einen Blick in den Spiegel. Die Erfahrung erwies sich indes als nahezu universal schockierend. Die Menschen waren entsetzt darüber, wie ihre Gesichter auf einem TP-Bildschirm aussahen. Es war mehr als nur »Moderatorenfeistheit«, der bekannte Eindruck zusätzlicher Masse auf gefilmten Gesichtern. Es war schlimmer. Auch bei hochauflösenden TP-Bildschirmen der Spitzenklasse fanden die Konsumenten ihre Telefoniergesichter verschwommen und feucht, sie entdeckten eine glänzende, fahle Unklarheit, die sie nicht nur wenig schmeichelhaft fanden, sondern auch irgendwie ausweichend, verschlagen, zwielichtig, unsympathisch. In einer frühen und dubiosen Testgruppenbefragung von InterLace/G.T.E., die in einem Sturm unternehmerischen Sci-Fi-Technikrauschs unterging, beschrieben fast 60% der Probanden, die bei Videophonaten ihre eigenen Gesichter zu sehen bekommen hatten, diese mit Vokabeln wie nicht vertrauenswürdig, unsympathisch oder schwer zu mögen, wobei phänomenal dubiose 71% der älteren Mitbürger unter den Probanden spezifische Ähnlichkeiten ihrer Videogesichter mit dem von Richard Nixon beim Wahlkampfduell mit John F. Kennedy im Fernsehen 1960 v.SZ sahen. Das Ende der von den psychologischen Experten der Telekommunikationsindustrie sogenannten Video-Physiognomischen Dysphorie (VPD) markierte bekanntlich das Aufkommen der Hochauflösenden Teilabdeckung; und die Unternehmer, die ihre Hemden sowie satte Nettogewinne nach Steuern durch die kurzlebige Videophonära retteten, waren denn auch diejenigen, die früh zur hochauflösenden Videophonischen Bildbearbeitung tendiert hatten. Was die Abdeckung betraf, wurde die anfängliche Option der Hochauflösenden Fotografischen Bildbearbeitung, bei der die schmeichelhaftesten Elemente mehrerer schmeichelhafter und aus mehreren Winkeln aufgenommener Fotografien eines gegebenen VideophonKonsumenten ausgewählt und – mittels bereits vorhandener Bildbearbeitungssoftware, bei deren Entwicklung die Kosmetik- und die Strafverfolgungsindustrie Pionierarbeit geleistet hatten – zu einer hochattraktiven, hochaufgelösten und sendefähigen Montage eines Gesichts kombiniert wurden, das den ernsthaften, leicht übertriebenen Ausdruck ungeteilter Aufmerksamkeit zeigte, schnell abgelöst von der kostengünstigeren und byte-ökonomischeren (und auf dieselbe Software von Kosmetik und FBI zurückgreifenden) Option des tatsächlichen Abgießens des nachbearbeiteten Gesichtsbildes in eine passgenaue Polybutylenharzmaske, und die Konsumenten ließen sich schnell davon überzeugen, dass eine dauerhaft zu tragende Maske die hohe Anfangsinvestition mehr als wert war, wenn man die Stress- und VPD-Reduktionsfaktoren bedachte, und die praktischen Klettverschlüsse für die Rückseite der Maske und den Hinterkopf ihres Trägers bekam man sowieso fast geschenkt; einige Geschäftsquartale lang konnten die Videophon-/Kabelunternehmen das Vertrauen VPD-geplagter Konsumenten zurückgewinnen, indem sie ihnen horizontal integrierte Verträge anboten, bei denen Anfertigung und Wartung der Masken bei Videophonneuanschlüssen inbegriffen waren. Wenn die hochauflösenden Masken nicht in Gebrauch waren, hingen sie einfach an kleinen Haken seitlich an der TP-Fonkonsole, was eingestandenermaßen ein bisschen surreal und verstörend aussehen mochte, wie sie abgestreift, leer und faltig dahingen, und manchmal kam es in größeren Familien oder bei Firmenfonen zu potenziell peinlichen Verwechslungen, wenn jemand in der Hast aus der langen Reihe dahängender leerer Masken die falsche nahm und aufsetzte – aber im Großen und Ganzen schienen die Masken anfangs ein brauchbarer Ausweg zu sein, um die Eitelkeits-, Stress- und Nixongesichts-Imageprobleme in den Griff zu bekommen. (2 und vielleicht auch 3) Koppelt man jedoch den natürlichen Unternehmerinstinkt, alle ausreichend wichtigen Konsumentenbedürfnisse zu befriedigen, mit der anscheinend ubiquitär verzerrten Selbstwahrnehmung der Menschen, kann man die Geschwindigkeit historisch begründen, mit der die ganze hochauflösende-Videophonische-Maskenkiste total außer Kontrolle geriet. Es ist nicht nur unheimlich schwer, das eigene Aussehen – ob attraktiv oder nicht – einzuschätzen (stellen Sie sich beispielsweise mal vor einen Spiegel und versuchen Sie, Ihre Position in der Attraktivitätshierarchie mit derselben objektiven Mühelosigkeit festzustellen, mit der Sie bei so gut wie allen Bekannten feststellen, ob er oder sie attraktiv ist oder nicht), sondern wie sich herausstellte, hatte die instinktiv verzerrte Selbstwahrnehmung der Konsumenten im Verbund mit eitelkeitsinduziertem Stress zur Folge, dass man Videophonmasken erst vorzog und dann ungeniert forderte, die sehr viel attraktiver waren als man selbst. Hersteller hochauflösender Masken, die willens und in der Lage waren, nicht nur wahrheitsgetreue, sondern darüber hinausgehende ästhetische Bildbearbeitungen zu liefern – ausgeprägtere Kinne, kleinere Tränensäcke, wegretuschierte Narben und Falten –, verdrängten die Hersteller mimetischer Masken schon bald vom Markt. Auf zunehmend entsubtilisierte Weise nutzten die meisten Konsumenten nach einigen weiteren Geschäftsquartalen Masken, die am Videophon so unbestreitbar viel besser aussahen als ihre echten Gesichter, und sandten einander so horrend verzerrte und geschönte Maskenbilder ihrer selbst, dass dies wiederum für enormen psychosozialen Stress sorgte, denn scharenweise trauten sich Fonnutzer plötzlich nicht mehr auf die Straße und verweigerten Konnexionen von Angesicht zu Angesicht, weil sie Angst hatten, Menschen, die sich an die weit besser aussehenden Maskenversionen ihrer selbst gewöhnt hatten, würden (so die Phobie der Teilnehmer) bei persönlichen Begegnungen eine alle Illusionen zerschmetternde ästhetische Enttäuschung durchmachen, wie man sie beispielsweise erlebt, wenn man gewisse stets geschminkte Frauen erstmals ohne Make-up sieht. Die an dieses Phänomen sich anlagernden sozialen Ängste wurden von den Psychoexperten auf den Begriff Optimistisch Entstellende Maskierung (OEM) gebracht, und diese nahm kontinuierlich zu, als die primitiven kleinen Videophonkameras der ersten Generation durch Geräte mit größerer Blende abgelöst wurden und die leistungsfähigeren Kleinkameras mehr oder weniger Ganzkörperbilder aufnehmen und übermitteln konnten. Psychologisch skrupellose Unternehmer vermarkteten daraufhin zweidimensionale Ganzkörperfiguren aus Polybutylen und Polyurethan – ähnlich den kopflosen Pappfiguren von Muskelprotzen und Badegrazien, hinter denen man am Strand in Position gehen, das Kinn auf den Halsstumpf aus Pappe betten und sich fotografieren lassen konnte, nur waren diese Videophon-Ganzkörpermasken technologisch weit raffinierter und sahen weit echter aus. Schlug man noch die Kosten für wechselnde zweidimensionale Garderobe, verschiedene Haar- und Augenfarben sowie diverse ästhetische Vergrößerungen und Verkleinerungen drauf, erreichte man bald die Grenzen der Erschwinglichkeit für die breite Masse, auch wenn gleichzeitig ein unglaublicher Gruppenzwang herrschte, sich das beste verfügbare zweidimensionale Körperbild anzuschaffen, um nicht mehr das Gefühl zu haben, am Videophon vergleichsweise scheußlich auszusehen. Nicht weiter verwunderlich, dass der unnachgiebige unternehmerische Drang zu immer überzeugenderen Simulationen schon bald das Übertragbare Tableau (ÜT) hervorbrachte, das im Rückblick der wirklich spitze Videophonische Sargnagel gewesen sein dürfte. Hatte man ein ÜT, brauchte man gar keine Gesichts- oder Körpermasken mehr, sondern ersetzte sie durch ein per Video erfasstes und übermitteltes massiv manipuliertes Standbild, das einen unglaublich sportlichen, attraktiven und gewinnenden Menschen zeigte, der mit dem tatsächlichen Teilnehmer nurmehr entfernte Ähnlichkeiten in puncto Rassezugehörigkeit und Gliederzahl aufwies und der vor dem Hintergrund eines prächtigen, aber nicht protzigen Raums, der am besten dem selbstgewählten Image entsprach, aufmerksam in Richtung der Videophonkamera blickte. Die Tableaus waren einfach qualitativ hochwertige und sendefähige Fotografien mit maßstabsgerecht verkleinerten dioramenhaften Proportionen, die mit einem Plastikhalter ähnlich einem Objektivschutz vor der Videophonkamera befestigt wurden. Extrem gut aussehende, aber nicht sonderlich erfolgreiche Unterhaltungsstars – die Sorte, die in früheren Jahrzehnten die Besetzungslisten von Infomercials aufgebläht hätte – waren plötzlich gefragt als Models für verschiedene leistungsfähige Videophontableaus. Weil man nur noch schlichte sendefähige Fotografien und keine digitale Bildbearbeitung und -aufbereitung mehr brauchte, konnten die Tableaus vergleichsweise preisgünstig und in Massen produziert und auf den Markt geworfen werden, und für kurze Zeit halfen sie tatsächlich, die Spannung zwischen der Kostenbelastung durch Körpermasken und dem monströsen ästhetischen Druck zu vermindern, den die Videophonie auf Teilnehmer ausübte, ganz zu schweigen von den dadurch geschaffenen Arbeitsplätzen für Bühnenbildner, Fotografen, Retuscheure und Stars auf Infomercialniveau, die seit dem Niedergang der Fernsehwerbung keine großen Sprünge mehr machen konnten.

(3) Aus der langfristigen Rentabilitätskurve in Bezug auf Fortschritte in der Verbrauchertechnologie lässt sich jedoch eine aufschlussreiche Lehre ziehen. Aufstieg und Niedergang der Videophonie entsprechen genau der klassischen annularen Form dieser Kurve: Zunächst kommt es zu einem fantastischen Sci-Fi-mäßigen Fortschritt in der Verbr.techn. – bleiben wir beim Beispiel des Übergangs vom akustischen zum optischen Telefonieren –, der allerdings gewisse unvorhergesehene Nachteile für den Konsumenten mit sich bringt; die von diesen Nachteilen erzeugten Marktnischen – wie der stressige eitle Abscheu der Menschen angesichts ihres Videophonischen Ebenbildes – werden im zweiten Schritt erfindungsreich durch unternehmerischen Elan gefüllt; gerade die Vorteile der genialen Nachteilkompensationsmechanismen unterhöhlen jedoch die ursprünglichen hochtechnologischen Vorteile und führen zu einem Rückfall der Konsumenten, Abflachen der Kurve und massivem Hemdenverlust für Investoren, die ihrer Zeit voraus sind. Im vorliegenden Fall führte die Evolution der Stress- und Eitelkeitskompensationen dazu, dass Videophonnutzer zunächst ihre eigenen Gesichter ablehnten, dann sogar ihre bis zur Unkenntlichkeit maskierten und digital bearbeiteten Ebenbilder und schließlich die Videokameras in toto abdeckten und den TPs ihrer Gesprächspartner nur noch attraktiv gestylte statische Tableaus übermittelten. Hinter diesen Objektivschutzdioramen und gesendeten Tableaus waren die Teilnehmer plötzlich wieder stressfrei unsichtbar, hinter den StarDioramen konnte man wieder eitelkeitsfrei ungeschminkt, toupetlos und tränensackverschandelt sein, man hatte – da wieder unsichtbar – die Freiheit zum Kritzeln, Pickelprüfen, Maniküren und Faltenchecken zurückgewonnen – derweil das attraktive, voll konzentrierte Gesicht des gutgestylten Stars vom Tableau am anderen Ende einem versicherte, Objekt einer ungeteilten Aufmerksamkeit zu sein, die man selber nicht aufzubringen hatte. Diese Vorteile waren natürlich keine anderen als die einst verloren gegangenen und nun zurückgewonnenen Vorteile des blinden, nur akustischen Telefons der guten alten Bell-Ära mit seinen 6 und (62 ) kleinen Löchern. Der einzige Unterschied bestand darin, dass die sündhaft teuren, albernen und unwirklich gestylten Tableaus jetzt durch teure Videofaserkabel von einem TP zum anderen übermittelt wurden. Wenn sich diese Erkenntnis erst durchgesetzt und (interessanterweise in der Regel per Telefon) unter Verbrauchern herumgesprochen hätte, wie viel Zeit würde nach Einschätzung eines Mikroökonomen wohl verstreichen müssen, bis die hochtechnologische Videophonie weitestgehend aufgegeben und zum guten alten Telefon zurückgekehrt würde, was nicht nur der gesunde Konsumentenverstand verlangte, sondern was nach einer Weile auch den kulturellen Segen schicker Integrität finden würde, kein Luddismus, sondern eine Art retrogrades Transzendieren der Sci-Fi-Hochtechnologie um ihrer selbst willen, ein Transzendieren der Eitelkeit und der Hörigkeit der Hightechmode gegenüber, die man bei anderen so unattraktiv findet. Die Rückkehr zum nur akustischen Telefonieren wurde, mit anderen Worten, am Ende der geschlossenen Kurve eine Art Statussymbol der Eitelkeitsverweigerung, sodass nurmehr Teilnehmer ohne die geringste Selbstironie weiterhin Videophone und Tableaus verwendeten, von Masken gar nicht zu reden, und diese geschmacklosen, bildtelefonierenden Leute wurden ironische kulturelle Symbole geschmackloser eitler Hörigkeit der Konzern-PR und Hightechneuheiten gegenüber, wurden in der Sponsorenzeit zu geschmacklosen Pendants von Menschen mit Freizeitanzügen, schwarzen Samtbildern, Überziehern für ihre Pudel, elektrischem Zirkoniumschmuck, NoCoat LinguaScrapers und sw. Die meisten Telekommunikationskunden stellten ihre dioramischen Tableaus ganz hinten in ein Nippesregal, schirmten ihre Kameras mit einem schwarzen Standardobjektivschutz ab und nutzten die kleinen Maskenhaken an den Telefonkonsolen für die neuen Adressbüchlein aus Plastik, die oben in der Bindung extra eine kleine Aussparung für das praktische Aufhängen an den ehemaligen Maskenhaken aufwiesen. Auch danach scheute selbstredend ein Großteil der US-amerikanischen Konsumenten nachweislich das Verlassen von Heim und Teleputer und das Risiko persönlicher Konnexionen, obwohl die Langlebigkeit dieses Phänomens nicht allein dem Videophoniefimmel zuzuschreiben ist, außerdem eröffnete die neue Panagoraphobie riesige neue teleputerisierte Märkte für Homeshopping und -lieferung und wurmte die Wirtschaft nicht weiter.

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Unendlicher Spaß
Infinite Jest

»Unendlicher Spaß vereint literarische Innovation und Lesbarkeit auf eigene, unerhörte, markerschütternde Weise.« Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Unendlicher Spaß« – so nannte James Incandenza seinen Film, der Menschen, die ihn anschauen, so verhext, dass sie sich nicht mehr von ihm lösen können und dabei verdursten und verhungern. Sein Sohn Hal, ein Tenniswunderkind mit außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten, studiert an der Enfield Tennis Academy (ETA), die von seinem Vater gegründet wurde. Hier sowie im nahe gelegenen Ennet-House, einem Entziehungsheim für Drogenabhängige, spielt ein Teil der überbordenden Handlung, die jeden literarischen Kosmos sprengt – in einem leicht in die Zukunft versetzten Amerika, das mit Kanada und Mexiko die »Organisation der nordamerikanischen Nationen« bildet und von radikalen Separatisten in Kanada bekämpft wird.

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Nicht allein der schiere Umfang, sondern vor allem die sprachliche Kreativität, die ungeheure Themenvielfalt, die treffsichere Gesellschaftskritik, scharfe Analyse sowie der Humor machen den Roman zum Meilenstein der amerikanischen Literatur. Namhafte Autoren von Dave Eggers bis Jonathan Franzen sehen in diesem Buch ein Vorbild für ihr Schaffen. Ulrich Blumenbach hat sechs Jahre lang an der Übersetzung gearbeitet, und seine kongeniale Übertragung ins Deutsche wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

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