Gastspiel

Schweizer Buchpreis: Laudatio zu Sibylle Berg »GRM. Brainfuck« von Christine Richard

Schweizer Buchpreis Sibylle Berg
© Foto: © BuchBasel-Ben Koechlin
Berg Schweizer Buchpreis
Foto: © BuchBasel-Ben Koechlin

Sehr geehrte Damen und Herren, mir ist die ehrenvolle Aufgabe zugefallen, den neuen Roman von Sibylle Berg zu würdigen. Das Buch heisst «GRM – Brainfuck». GRM wie Grime, Schmutz, Dreck – ein schneller, wütender Musikstil. Brainfuck wie eine Warnung: Vorsicht, bissiges Buch. Der Schauplatz ist London, irgendwann bald. Kinder verrotten in Kellerwohnungen. Hass. Mütter saufen das Elend nieder und prostituieren sich bei reichen Russen. Die Väter sind abgehauen. Kommen nur noch zurück, um sich die Frau vorzunehmen und die Kinder zu verprügeln. Hass. Die Männer sind arbeitslos, frauenlos, nutzlos und wütend. Hass. Es gibt Attentäter und Avatare, Vatermörder, Kinderschänder, Rechtsextremisten. Und Hass, Hass, Hass. Es ist schlimm und auf grausame Weise komisch. Was ist da los? Sibylle Berg ist los. Gnadenlos, kompromisslos, grandios über weite Strecken. 640 Seiten Wut. Eispickelharte Gesellschaftskritik. Formulierungen wie Spreng-Sätze. Gegen den entfesselten Kapitalismus setzt die Autorin als Kampfmittel ihre eigene entfesselte Fantasie. Sie sagt voraus, was vom Neoliberalismus übrig bleibt: unten Abschaum, oben Milliardäre, die Mittelschicht ist zerrieben. Brexit, Exitus, Elend bis zum Erbrechen. Die Firmen sind von Chinesen aufgekauft, die Elite ist korrupt, die Moral kaputt. Und die Regierung? Bloss keine falschen Hoffnungen. Programmierer erschleichen sich die Macht – und werden am Schluss selber gelenkt und überwacht von Superrechnern. Alles so schön sauber dann, so leblos und still. Willkommen in der Welt der künstlichen Intelligenz. Das Buch funktioniert wie ein apokalyptischer Ritt durch unsere Gegenwart… in die Zukunft hinein. Im Mittelpunkt stehen vier Jugendliche. Alle vier aus kaputten Familien, gedemütigt von Sozialämtern, missbraucht, seelisch, körperlich, überall. Die armen Kinderlein? Jetzt nur nicht sentimental werden. Diese jungen Menschen kennen selber keine Moral. Woher auch. Sie machen nach, was Erwachsene ihnen vormachen. Sie wehren sich grausam. Ihr Motto: Nie mehr verletzt werden! Die Erzählerin ist auf Seiten der Teenager, durchaus einfühlsam. Aber sie schmiert nicht mit Mitleid. Denn Anteilnahme sollen die Jugendlichen von anderen bekommen: von den Lesern. Die Verantwortung fällt auf uns zurück. Gut so. Kunst, die den Namen verdient, ist jenseits von Gut und Böse. Moral ist das Verhüterli von Literatur. Sibylle Bergs Horrorszenen wirken sehr böse ─ aber nur, um eine sehr gute Frage zu stellen: Wie weit wird es mit uns kommen, wenn wir so weitermachen wie bisher? Auch formal ist dieses Buch ein grosser Wurf. Die hochkompakte Erzählweise orientiert sich an der Programmiersprache «Brainfuck», erfunden 1993 vom Schweizer Urban Müller. Wie im Internet klickt der Roman einzelne Personen und Ereignisse an – und bleibt dennoch durchgehend spannend, weil er untergründig wie ein Entwicklungsroman funktioniert, eine Zeitreise. In 100 Jahren wird dieser Roman immer noch aktuell sein. Zwar liegt das Buch dann vermutlich als digitale Leiche im Massengrab namens Internet. Aber irgendwelche Menschen oder Cyborgs werden ihn finden. Und lesen. Und staunen. Sie werden staunen, welche Grausamkeit bei uns angesagt war. Staunen, wie Sibylle Berg die Zukunft vorausgesagt hat. In jedem Fall: Sibylle Berg hat ihrem Namen alle Ehre gemacht. Denn die Sibylle, das ist dem Mythos nach die Prophetin. Im Namen der Jury des Schweizer Buchpreises gratuliere ich Sibylle Berg zu ihrem kompromisslosen, hellsichtigen, wahnwitzigen und auf absurde Weise auch witzigen Roman.

Christine Richard

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