Dennis Jürgensen: »Taubenschlag« Leseprobe

Der Bestseller aus Dänemark

Teit & Lehmann ermitteln im zweiten Fall

 

In Berlin werden in einem alten Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg die Leichen einer Familie gefunden. Parallel dazu werden in Norddeutschland Menschen brutal in ihrem Zuhause ermordet, gefesselt an einen Sessel und mit einer blutenden toten Taube auf dem Schoß.

Lykke Teit wird aus Kopenhagen nach Flensburg geholt, um Rudi Lehmanns Team bei den Ermittlungen zu helfen und die länderübergreifende Polizeiarbeit zu stärken. Wie hängen der Leichenfund und die Mordserie zusammen?

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Es sah aus wie das Tor zur Hölle.
Der feuchte Modergeruch, der aus dem Loch stieg, vermischte sich in Aaron Frischs Fantasie mit Schwefel, Qualen und fernem Wehklagen. Der junge Mann trat unwillkürlich ein paar Schritte zurück, als die schwere Eisenluke in ihren Angeln aufschwang.
»Wie weit müssen wir rein?«
»Bis zum bitteren Ende«, erklärte Horst Böttger mit einem schiefen Grinsen.
Es war Aarons erster Job als Scout im Berlin Bunker Protocol. Er bereute es bereits, nicht die Stelle im Café angenommen zu haben. Er hätte weniger verdient, aber in angenehmerer Umgebung gearbeitet; außerdem hätte er umsonst essen können, und es gab jede Menge junger weiblicher Gäste. Und einige wollten nicht nur flirten und Trinkgeld geben. Das wusste er von einem Studienfreund.
Bei Berlin Bunker Protocol lief es anders. Im Büro saßen ein paar seiner neuen Kollegen in der Nähe der Kaffeemaschine im Warmen, aber draußen waren nur er und Böttger, der in seinem schmuddeligen Blaumann und den abgetragenen Stiefeln wie ein Relikt aus der Vergangenheit aussah. Das Charakteristischste an dem runden Kopf des Vorarbeiters war ein Zigarillostumpen, der fürchterlich stank, wenn er ihn in regelmäßigen Abständen wieder anzündete. Wer rauchte denn heute noch Zigarillos? Und wer rauchte überhaupt noch? Horst Böttger, der Alterspräsident der Firma, der laut eigener Aussage über fünfundzwanzig Kilometer unterirdischer Gänge und ausreichend Quadratmeter Schutzräume kartografiert hatte, um zwanzig Fußballfelder damit abzudecken.
»32 Ost«  – wo sie sich gerade befanden, und den Böttger aufgrund eines Metallschildes an der Innenseite der verrosteten Luke so bezeichnet hatte  – fand man in keinem Verzeichnis. Viele der unterirdischen Bunkeranklagen des Zweiten Weltkriegs waren in Vergessenheit geraten, und wenn sie gefunden wurden, mussten sie vermessen werden. Türen, Räume, Korridore und Treppen, alles musste registriert werden. Berlin Bunker Protocol lieferte eine Übersicht, bevor entschieden wurde, ob ein Komplex eventuell einem praktischen Nutzen zugeführt wurde. Beispielsweise als Vorratsraum – eine Käserei hatte ihr Lager in einem der Bunker – oder um Leitungen und Rohre zu verlegen, sodass man unnötige Grabungsarbeiten vermied.
Horst Böttgers fester Partner hatte sich bei einem Sturz von der Küchenleiter ein Bein gebrochen und war krankgeschrieben. Der Vormann hatte Aaron weismachen wollen, das Unglück sei während der Untersuchung eines unterirdischen Systems im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf passiert. Eine Ratte hätte sich durch den Stiefel des Kollegen gebissen und ihn infiziert. Böttger hatte dem Grünschnabel von Anfang an Respekt beibringen wollen.
»Wieso hat man diesen Bunker erst jetzt entdeckt?«, wollte Aaron wissen, als Böttger die Technik seines transportablen Room Scanner justierte.
»Passiert manchmal«, murmelte Böttger durch das Zigarillo.
»Die alten Aufzeichnungen gingen verloren, als Berlin 1945 unterging. 32 Ost war hinter einem alten Bauwagen versteckt.«
Er wies mit dem Kopf auf einen großen Haufen Schutt und Holzreste hinter ihnen. Aaron schüttelte sich. Es war ein frostkalter Novembermorgen. Sie standen in einem geschlossenen Hinterhof, in der Ecke wuchs eine große Kastanie. Das Grundstück gehörte einem alten, erst kürzlich verstorbenen Sonderling. Die Erben wollten es verkaufen, daher hatte man den Bauwagen zerlegt – und hinter einem welken Brombeergebüsch die eiserne Falltür entdeckt. Ein paar Gärtner hatten die Umgebung gerodet, um an die Luke zu kommen.
»Das kann Stunden dauern, wenn wir jede Ecke registrieren
wollen.«
»Wir sind hier schließlich nicht zum Sightseeing«, knurrte Böttger. »Das ist unser Job.«
»Ich glaube kaum, dass es da unten viel zu sehen gibt.«
»Ich habe mal eine Ratte gesehen, die war so groß wie ein Dackel.«
Böttger rollte das Zigarillo geschickt vom rechten in den linken Mundwinkel und stieg hinab in die Dunkelheit. Aaron blieb stehen.
»Was ist, Weichei?«, tönte es aus dem Loch. »Brauchst du eine Extraeinladung?«
Zögernd kletterte Aaron hinab, die Dunkelheit fraß ihn auf. Böttger schaltete die Stirnlampe seines Helms an. Aaron folgte seinem Beispiel. Man hatte ihn zusätzlich mit einer kräftigen Stablampe ausgestattet, die das Licht des Helms ergänzen sollte.
»So gefährlich ist das vermutlich gar nicht«, sagte er. »Hier kann nichts einstürzen. Der ganze Scheiß ist aus Beton.«
»Du redest, als hättest du Ahnung«, erwiderte Böttger. »Es gibt manchmal lockere Eisenträger und Löcher im Fundament. Das sind übrigens die Hindernisse, nach denen du Ausschau halten sollst, während ich die Messungen vornehme. Deshalb gehst du vor. Los!«
Aaron war nicht sonderlich begeistert, aber er befolgte die Anweisung. Acht bis zehn Meter weiter führte eine Steintreppe mehrere Stockwerke tief unter die Erde. Er warf einen sehnsuchtsvollen Blick zurück auf die Öffnung der Falltür. Es sah aus wie ein Gemälde aus einem früheren Jahrhundert. Das Motiv war ein Teil der Mauer des Nachbarhauses und ein Ausschnitt des Kastanienbaums. Und je mehr sich die Falltür
schloss, desto mehr verengte sich das Bild, bis sie mit einem dröhnenden Poltern zufiel. Zum Glück ließ sie sich nicht abschließen. Am Vortag hatten ein paar Handwerker die Luke aufgebohrt. Glücklicherweise geschah all das nur in seiner Fantasie.
Vorsichtig wagten sich die beiden Männer hinunter in den engen Schacht, Aaron voran. Mithilfe der Lampe achtete er eifrig auf Bewegungen. Ratten oder anderes Gewürm. Die Stufen waren an mehreren Stellen verwittert. Als er den Fuß auf den Boden setzte, blieb er stehen und horchte. Die Geräusche vom morgendlichen Verkehr in Berlin waren längst verschwunden. Sie befanden sich jetzt in einer anderen Welt, in der Dunkelheit und Stille herrschten. Die Lichtkegel beleuchteten einen neuen und sehr viel längeren Gang, der sich in die gleiche Richtung erstreckte wie der erste. Aaron konnte das Ende nicht sehen. Der Durchgang war schmal, ein klaustrophobisches Gefühl stieg in ihm auf. Sorgfältig achtete er darauf, die Wände nicht zu berühren, die an vielen Stellen mit rotbraunem Moos oder Schwamm überzogen waren. Er wunderte sich, dass es Pflanzen gab, die ohne Licht und Wasser auskamen. Nach einigen Minuten spürte er einen pelzigen Belag im Rachen. Vielleicht wäre es besser, die Atemschutzgeräte zu holen, aber er kannte die Antwort. Böttger konzentrierte sich auf den Scanner. Er sandte lange rubinrote
Strahlen aus, die über die Wände flimmerten.
Aaron ging langsam weiter, die Schritte passten nicht zu seiner Pulsfrequenz. Es gibt keinen Grund, nervös zu sein, sagte er sich. Es waren lediglich ein paar unterirdische Gänge und Räume aus einer untergegangenen Zeit, aber der Gedanke, dass sie vermutlich die Ersten waren, die hier seit über siebzig Jahren vordrangen, stimmte ihn nachdenklich. Sie hatten ein Siegel gebrochen. Eine unsichtbare Grenze überschritten. Wie Archäologen, die die Pyramiden öffneten und von einem Bann getroffen wurden.
Aaron fluchte innerlich. Er hätte sich diesen Film niemals ansehen dürfen.
Ein Stück weiter vorn tauchten Öffnungen ohne Türen in der Dunkelheit auf. Die erste war sechs, sieben Meter entfernt auf der linken Seite. Aaron leuchtete in einen länglichen Raum. Er war leer. Böttger scannte ihn. Der Vorarbeiter hielt ihn als »Raum I« fest. Rechts kam eine weitere Kammer. Die Prozedur wiederholte sich. Die Laserstrahlen flimmerten lautlos über die Wände, Böden und Decken und meldeten mit einem Piepton, dass der gesamte Raum registriert war.
»Clear«, grunzte Böttger und hustete.
Seine Stimme klang belegt. Vielleicht war die Kombination aus Schwamm und Zigarillorauch nicht das Gesündeste. Das Licht der Stirnlampe des Vorarbeiters blendete Aaron, der nur die Umrisse seines Kollegen sehen konnte. Als hätte Böttger plötzlich kein Gesicht mehr. Ein Schatten ohne Seele. Es kratzte
im Hals. Aaron hielt die Luft an.
»Los, weiter, Mann!«
Aaron trat drei Schritte zurück in den Gang und geriet in ein mannshohes Spinnennetz, das sich hier unten besonders klebrig anfühlte. Er fluchte und wischte sich mit der freien Hand hektisch das Gesicht ab. Böttger grinste, gackerte wie ein Huhn und wedelte mit den Armen. Aaron kniff die Lippen zusammen und
tat so, als wäre nichts gewesen.
Alter Idiot. Er war garantiert impotent.
Ein Stück weiter gab es zwei Türöffnungen direkt gegenüber. Im rechten Raum standen einige Metalltische, an der Wand eine Reihe Blechregale. Möglicherweise eine ehemalige Speisekammer oder ein Aufbewahrungsraum. Die Hälfte einer alten Mehltüte lag verstreut auf dem Boden.
Aaron ging in den Raum gegenüber. Dort stand ein ramponierter Schreibtisch. Die Platte war mit rotbraunem Schwamm überzogen. Im Lichtkegel ähnelte der Schimmel Haaren, beinahe so, als würde das Holz leben. An der einen Seite fehlten die Füße.
Es sah aus, als seien sie abgebrochen, sodass der Schreibtisch wie eine Rampe schräg auf die Decke zielte. Daneben stand ein einfacher Bürostuhl mit zerbrochener Rückenlehne. Auf dem Sitz lagen ein paar zusammengeknüllte Blätter. Aaron glättete sie. Ein alter Geldschein. »Hundert Billionen Mark«, ausgestellt von der Reichsbankdirektion. Der Schein war braun. Auf der einen Seite zeigte er das Porträt eines kräftig aussehenden Mannes mit einer hohen weißen Mütze. Er sah aus wie ein Bischof oder ein römischer Kaiser. In der linken unteren Ecke war das Symbol des deutschen Adlers zu sehen. Ein leichter Goldrausch verdrängte einen Moment Aarons Nervosität.
»Glückwunsch, Sohnemann«, sagte eine Stimme unvermittelt direkt hinter ihm.
Aaron zuckte zusammen. Beinahe hätte er die Stablampe fallen lassen, da er Böttger nicht hatte kommen hören. Der Vorarbeiter grinste amüsiert.
»Jetzt bist du Multimillionär.«
Aaron hielt den Lichtkegel fasziniert auf das Geld.
»Was glaubst du, wie viel ist das wert?«
»Heute mehr als damals, als es gedruckt wurde. Mit ein bisschen Glück bekommst du sicher fünf Euro dafür.«
»Für hundert Billionen Mark?«
Böttger justierte das Zigarillo im Mundwinkel und sprach,
während er den Raum vermaß.
»Bist du nicht zur Schule gegangen? Der Schein wurde in den Zwanzigerjahren ausgegeben, zur Zeit der Wahnsinnsinflation während der Weimarer Republik. Damals war er weniger wert als eine Rolle Klopapier. Wahrscheinlich hat den Schein irgendein nostalgischer Feldwebel im Zweiten Weltkrieg von seinem Opa bekommen. Vielleicht war es sein Glücksbringer. Hoffen wir, dass er damit lebendig aus dieser Grabkammer herausgekommen ist. Na los, machen wir weiter.«
Der Gang führte noch immer geradeaus, weitere leere Räume zweigten davon ab. Aarons Stirnlampe flimmerte unruhig. Ein paar Mal fiel das Licht aus, schaltete sich aber wieder ein. Zum Glück hatte er die Stablampe.
»Wie weit sind wir gegangen?«, fragte er, als sie das Ende erreichten und sich der Gang teilte.
»Der Scanner sagt zweihundertsechsundfünfzig Meter.«
»Und jetzt? Wo entlang? Rechts oder links?«
»Das entscheidest du. Willst du die Frau oder willst du dem
Tiger begegnen?«
»Äh, was?«
Böttger stöhnte resignierend.
»Sag mal, was lernt ihr jungen Menschen eigentlich heutzutage? The Lady or the Tiger? Kennst du das nicht? Es war einmal ein König, dessen Diener sich in seine Tochter verliebte. Die Tochter liebte den Diener auch, also bot der König dem Diener die Wahl zwischen zwei Türen an. Hinter der einen Tür befand
sich seine Tochter und das halbe Königreich als Erbe und Besitz, hinter der anderen ein hungriger Tiger. Der Diener durfte selbst entscheiden, aber er musste eine der beiden Türen öffnen. Triff deine Entscheidung, Diener!«
Aaron leuchte in die beiden Gänge hinab. Sie sahen identisch aus. Zwölf, fünfzehn Meter weiter vorn gab es einen Knick von neunzig Grad. Sie mussten in jedem Fall alles vermessen. Aaron stand politisch links von der Mitte, also entschied er sich nach kurzer Bedenkzeit für diese Seite. Nach der Biegung setzte sich der Gang geradeaus fort. Sie kamen zu zwei nebeneinanderliegenden Räumen ohne Türen. Es sah nach einer Sackgasse aus.
»Weißt du, dass wir gerade eine historische Grenze überschritten haben?«, fragte Böttger, während er die rubinroten Strahlen geschickt über die Decke tanzen ließ.
»Was meinst du?«
»Irgendwo über uns stand die Mauer. Wir sind im alten Ostberlin runtergegangen, jetzt sind wir in Westberlin. Das …«
»Riechst du das auch?«, unterbrach ihn Aaron.
»Was?« Böttger hatte auf seinen Scanner geblickt. »Warte, ich will nur noch den Gang vermessen.«
Aaron stand still. Er schnüffelte.
»Ich weiß nicht, nur ein übler Geruch.«
»Vielleicht die Kanalisation. Manchmal ist sie undicht und dringt in die Bunkeranlagen ein. Es könnten auch Ratten sein.
Ich habe mal ein ganzes Nest gefunden.«
»Wie sollten Ratten hier runterkommen? Der Ort war doch hermetisch verschlossen.«
»Es gibt überall kleine Öffnungen. Die Satansbraten brauchen nur wenige Zentimeter, um sich da durchzuzwängen.«
Aaron wollte die Arbeit möglichst rasch hinter sich bringen.
Er war bereits durchgefroren, und selbst die dicke Winterjacke, die Mütze unter dem Helm und die Fäustlinge schienen nicht auszureichen, um sich vor der feuchtklammen Luft zu schützen. Je länger sie sich hier aufhielten, desto stärker wurde das Gefühl, dass sie nicht allein waren. Als würde sie jemand
beobachten oder ihnen in den dunklen Gängen heimlich auflauern.
»Willst du den linken oder den rechten Raum zuerst vermessen?«
»Die Frau oder den Tiger?«
Aaron ging nach rechts.
»Der Geruch wird stärker.«
»Ich rieche überhaupt nichts«, behauptete Böttger.
Aaron hätte gern gesagt, es läge daran, dass Böttger durch ein vertrocknetes Stück Pekinesenscheiße Luft holte, aber es war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort dafür. Er leuchtete in den Raum. Er war leer, hatte aber eine Verbindung zu dem danebenliegenden Raum. In einer Ecke führten eiserne
Stufen zu einer Öffnung in der Decke. Aaron leuchtete hinein, konnte aber nicht sehen, wo der Schacht endete.
»Sieht aus wie ein Ausgang.«
»Das ist ein Ausgang«, erklärte Böttger. »Er führt auf die Straße. Ich habe so etwas schon mal gesehen. Wird Kaminschleuse genannt. Vermutlich ist dort oben nur eine versiegelte Luke. Häufig wurde darüber gebaut, und dann sind sie in Vergessenheit geraten.«
»Wir müssen doch wohl nicht hinaufklettern?«
»Nein, wir nicht. Aber du.«
Aaron wollte protestieren. Das Licht seiner Stirnlampe fiel in den Nebenraum. Er ergänzte das Licht mit der Stablampe.
»Shit!«
Böttger folgte seinem Blick. »Mein Gott!«, stieß er aus, der Zigarillostumpen fiel zu Boden.
Ein paar dünne Beine in Nylonstrümpfen und hochhackigen Schuhen waren im Nebenraum zu sehen. Aaron ging langsam hinüber. Böttger folgte ihm. Eine Frau lag zusammengekrümmt auf der Seite. Sie war bekleidet und bedeckt von einer grauen Schicht aus Staub und Spinnweben. Und sie war schon lange tot.
Der Boden um sie herum war dunkler als im übrigen Raum. Der Schwamm gedieh hier besser. Der Schädel trat unter der eingefallenen Gesichtshaut hervor, die Zähne zeigten ein verzerrtes Grinsen, das der Gesamtsituation widersprach. Ein Arm der Leiche war zur entlegensten Ecke ausgestreckt. Aaron leuchtete
dorthin. Böttger fluchte erneut. Eine weitere Leiche. Den Füßen nach zu urteilen, die unter einem schweren Herrenmantel hervorlugten, war es ein Kind. Kaum älter als sechs, sieben Jahre.
Ein Mädchen, sie sahen es an den Schuhen.
Böttger trat einen Schritt zurück und wäre beinahe gefallen.
Er heulte auf. Aaron leuchtete auf eine dritte Leiche, einen Mann.
Er lag ebenfalls in einer verkrampften Position auf dem Rücken, auch er vollständig bekleidet, allerdings ohne Mantel. Wie die Frau war er mit Staub und Spinnweben bedeckt. Die Verzweiflung und die Angst ließen sich noch immer aus seinen eingetrockneten Gesichtszügen ablesen.
Böttger flüsterte, als hätte er Angst, sie könnten ihn hören.
»Wie zum Teufel sind die hier gelandet?«
Der Anblick war fürchterlich. Traurig. Eine kleine Familie.
Zusammen und trotzdem bis in alle Ewigkeit getrennt. Aaron spürte, wie Tränen in ihm aufstiegen.
»Sie sind … sie sind fast …«
»Skelette.«
»Mumien.«
»Ich glaube, sie sind verhungert.«
»Was … was meinst du, wie lange haben die hier gelegen?«, fragte Aaron.
Böttger schüttelte den Kopf.
»Weiß nicht. Vielleicht seit dem Krieg.«
Zwei Taschen und ein Koffer standen in der Ecke, ebenso von Staub und Schwamm überzogen wie alles andere. Neben der Frau lag ein kleiner Kerzenhalter mit einem heruntergebrannten Rest Wachs. Das letzte Licht, bevor die Dunkelheit sich um sie gelegt hatte.
Aaron konnte die Tränen nicht länger zurückhalten, aber er riss sich zusammen und ging zu dem Gepäck.
»Vielleicht gibt’s einen Ausweis.«
»Du darfst nichts anfassen!«, schrie Böttger. Er wühlte in seiner Hosentasche und zog sein Handy heraus.
»Scheiße! Natürlich habe ich hier keinen Empfang.«
»Wir müssen zurück und Hilfe rufen. Wer geht, und wer bleibt?«
»Verdammt, wir gehen beide«, erklärte der Vorarbeiter. »Ich bleibe jedenfalls nicht hier, und die laufen uns nicht weg!«



Der Mann im Sessel öffnete langsam die Augen und sah sich verwirrt um. Er konnte sich so gut wie nicht bewegen. Im ersten Moment glaubte er, es wäre die natürliche Fähigkeit des Körpers, im Schlaf die Glieder zu blockieren. Er hatte schon früher versucht, wach zu werden, doch die Paralyse war nicht gewichen.
Ein wirklich unangenehmes Gefühl. Hier hielt es an. Zu seinem großen Entsetzen stellte er fest, dass er gefesselt war. Das Seil verband Brust und Beine fest mit dem Sessel. Als er versuchte, die Arme anzuziehen, traf er ebenfalls auf Widerstand. Die Hände waren fest an die breiten Armlehnen des Sessels gebunden. Er
fühlte sich benommen und kraftlos. Als wäre er nach einer Operation erwacht. Panik überkam ihn, er versuchte sich zu befreien, er riss und zerrte an den Stricken.
Im Zimmer ertönte ein scharfes, metallisches Klatschen. Er hatte einige Male in seinem Leben mit Waffen zu tun gehabt und kannte das Geräusch, wenn eine Pistole durchgeladen wurde.
Die Leselampe wurde eingeschaltet. Sie war umgestellt worden und stand nun direkt vor ihm. Er riss und zerrte weiter an den Stricken, die sich dadurch aber nur strammer zusammenzogen, bis es schmerzte.
»Vergiss es«, sagte eine Stimme. »Du bleibst, wo du bist.«
Die Sonne war untergegangen, die Nacht zeichnete sich blauschwarz auf den Fensterscheiben ab. Er hatte am Kamin gesessen und einen Roman gelesen, den er in der Bibliothek gefunden
hatte. Steinbecks Früchte des Zorns. Klassiker gefielen ihm am besten. Er genoss es, von Regalen mit so vielen Büchern umgeben zu sein. So viele hatte er selbst nie besessen. Es gab Fachbücher über ganz unterschiedliche Themen und alle großen Klassiker in hübschen, ledergebundenen Ausgaben. Die Bibliothek hatte darüber hinaus den Vorzug, dass sie über einen Ausgang in den Garten verfügte. Der Koffer hatte in all der Zeit, die er hier verbracht hatte, bereitgestanden – bereit zur Flucht, falls jemand
kommen sollte. Als es schließlich passierte, ging der Plan vollkommen schief.
Er war geistesgegenwärtig genug, um sich darüber zu wundern, wie er in diese Situation geraten konnte. Nach dem täglichen Spaziergang im Wald war er eingedöst. Die Hitze des Kamins. Das schwache Licht. Der Tee. Er war in einen tiefen, unruhigen Schlaf gefallen.
»Das wurde aber auch Zeit«, sagte die Stimme. »Kommen wir direkt zur Sache. Ich erkläre dir die Regeln. Sie sind sehr einfach: Ich stelle einige Fragen, die du beantwortest. Lügst du auch nur einmal, bringe ich dich um. Ich kenne die Antworten, daher kannst du mich nicht hintergehen, aber ich will die Wahrheit aus
deinem Mund hören. Hast du verstanden?«
Er kniff die Augen in dem Licht der Leselampe zusammen.
»Wer sind Sie? Und was wollen Sie?«
»Das war nicht die Frage. Versuchen wir’s noch einmal: Verstehst du die Regeln?«
»Warum haben Sie mich gefesselt?«
Es war ein paar Sekunden still, dann ertönte ein Schuss, gefolgt von einem lauten Knall, als eine Vase auf dem Regal hinter ihm explodierte. Die Scherben regneten über den Mann im Sessel, der sich instinktiv zusammenkrümmte. Staub wirbelte im Licht der Lampe. Die Stimme sprach weiter.
»Ich stelle die Fragen, und du antwortest. Und wenn du mich
belügst, ist es vorbei. Kapiert?«
»J-ja«, stammelte er. »Ich verstehe.«
Der Fremde trat an den Schreibtisch und stellte etwas Schweres ab. Der Mann im Sessel konnte nicht sehen, worum es sich handelte, aber er erkannte das Geräusch einer Schreibmaschine, als ein Blatt Papier in die Walze gespannt wurde. Der Fremde begann zu schreiben. Das Geräusch der klappernden Tasten war
beinahe noch erschreckender als der Pistolenschuss, weil es in dem Gesamtbild überhaupt keinen Sinn ergab.
»Jetzt habe ich deinen Namen für dich ergänzt«, sagte die Stimme. »Den kennen wir beide, darauf musst du nicht antworten.«
Sein Kopf brummte. Er begriff nicht, wie der andere ihn hatte fesseln können, ohne dass er aufgewacht war. Er sah sich um.
Entdeckte die Tasse auf dem kleinen Tisch. Der Tee. Stöhnend wand er sich hin und her. War es wirklich so einfach?
»Frage Nummer eins«, sagte der Fremde. »Wann bist du geboren?«
Die Stimme stand in scharfem Kontrast zu der albtraumartigen Szenerie. Sie war sanft und ein wenig melodisch, sie ließ den Mann im Sessel an eine Mischung aus Nat King Cole und James Mason denken. Aber der Fremde sprach Deutsch, was nicht sonderlich überraschend war, schließlich befanden sie sich nur einige Kilometer außerhalb Lübecks.
»Ich kann dich nicht hören«, sagte der Maschinenschreiber und hob die Pistole. »Die Frage ist doch so einfach, dass sie ein Fünfjähriger beantworten kann. Wann bist du geboren?«
Es wurde ihm klar, dass der Fremde nicht wegen ihm gekommen war. Sondern wegen Werner Bauer. Dem Mann, dem dieses Haus gehörte. Aber der Eindringling wusste offensichtlich nicht, wie Bauer aussah – wie also konnte er den Fremden davon überzeugen, dass er nicht Bauer war?
Sein Hals war knochentrocken. Sein Blick fiel auf das Wasserglas neben der leeren Teetasse.
»Du hast drei Sekunden«, sagte die Stimme.
Es gab nur ein einziges Datum, das er nennen konnte, er betete, dass der andere es akzeptierte. Sein eigener Geburtstag.
»Ich wurde am 12.April 1963 geboren«, sagte er heiser. »Darf ich um etwas zu trinken bitten?«.
»Am 12.April 1963«, wiederholte die Stimme und ignorierte die Bitte, akzeptierte aber die Antwort. »Stimmt genau.«
Die Schreibmaschine klapperte munter. Der Mann konnte damit umgehen. Schnell.
»Du siehst erschöpft aus. Ich glaube, dein Leben war hart. Auf der Flucht, habe ich recht?«
»Zeitweise.«
Wieder wurden die Tasten bedient.
»Jetzt kommt eine der wichtigsten Fragen.« Eine kurze Pause.
»Hast du jemals einen anderen Menschen ermordet?«
Er riss die Augen auf. Antwortete nicht. Verblüfft. Vergeblich versuchte er, seinen linken Arm zu befreien.
Der Schreibtischstuhl schrammte über den Boden. Der Fremde stellte sich hinter die Leselampe. Eine dunkle Silhouette. Erneutes Durchladen. Eine Glock 17 zeigte sich im Licht der Lampe. Ihre schwarze Mündung glotzte ihn an.
»Ich finde, es läuft nicht wirklich gut mit den Antworten.«
Der Fremde trat einen Schritt zur Seite, sodass der Mann im Sessel ihn sehen konnte. Instinktiv schlug er den Blick nieder. Der Schreibmaschinenschreiber steckte die Pistole unter den Gürtel und löste die Fessel des rechten Handgelenks. Ein befreiendes Gefühl breitete sich in seinem Unterarm aus, der vom gestauten Blut blauviolett angelaufen war.
»Danke.«
Er blickte zu dem Fremden auf. Er hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Eine graue Pappe und ein Kugelschreiber wurden ihm gereicht. Der Mann im Sessel nahm beides zögernd entgegen. Das Blatt Papier auf dem Karton hatte eine Reihe vorgedruckter Rubriken und ganz unten eine gestrichelte Linie für die Unterschrift. Das Datum war bereits eingetragen. Oben in der Ecke stand »Geständnisdokument Seite 2/2«. Es war eine Art Geständnisbericht mit irgendeinem offiziellen Stempel, aber er konnte nicht erkennen, von wem, denn der Fremde hielt den Daumen darüber.
»Tu mir den Gefallen und unterschreib. Dann ist das erledigt.« Er legte die graue Pappe mühsam auf die breite Sessellehne, zögerte aber. Der Fremde zog die Pistole.
»Bitte!«
Er unterschrieb als »Werner Bauer«. Der andere ging wieder an den Schreibtisch und setzte sich.
»Na, wo waren wir? Ach ja, hast du jemals einen anderen Menschen ermordet?«
Der Mann im Sessel durfte nicht lügen. Er nickte vorsichtig.
»Es reicht nicht, dass du nickst. Ich muss die Antwort aus deinem Mund hören, sonst kann ich sie nicht aufschreiben, nicht wahr?«
»Nein, ich meine: ja.«
»Du hast jemanden getötet?«
»Ja.«
»Das ist korrekt. Und wir schreiben: ›Ja, ich habe einen anderen Menschen ermordet.‹ Und nun das Interessanteste: Wen hast du ermordet?«



Lykke hatte gerade das Badezimmer verlassen, als es klingelte, nicht nur einmal, sondern so beharrlich, dass es sich beinahe wie eine hässliche Melodie anhörte. Sie wickelte ein großes Handtuch um ihren noch dampfenden Körper, ging durch den Flur und hob den Hörer der Gegensprechanlage ab.
»Hören Sie schon auf«, sagte sie. »Wer ist da?«
»Ich bin’s. Wieso gehst du nicht ans Telefon? Lass mich rein! Schnell!«
Die Stimme war so schrill wie damals, als sie frisch verliebt waren und er sich um Karten für ein Springsteen-Konzert betrogen fühlte.
»Thomas?«
»Ja, natürlich.«
»Ich habe jetzt keine Zeit. Ich muss in fünfundzwanzig Minuten im Präsidium …«
»Es ist wichtig! Mach auf!«
Sie hörte, wie er an der Haustürklinke rüttelte.
»Verflucht, jetzt lass mich endlich rein!«
So zu fluchen, war eigentlich nicht seine Art. Das passierte nur, wenn er besonders gestresst war. Vielleicht hatte seine neue Frau auch schon genug von seiner unerträglichen Mutter.
»Lykke! Bist du noch da?«
Sie drückte auf den Knopf und öffnete die Wohnungstür einen Spalt. Sie hatte es gerade noch geschafft, sich eine Unterhose anzuziehen, als er mit flatternder Jacke und zerzausten Haaren in ihr
Schlafzimmer stürmte.
»Warum gehst du nicht ans Telefon?«, wiederholte er.
»Ich habe mir erlaubt, ein Bad zu nehmen, wenn es dir nichts
ausmacht. Was ist denn los?«
Er hatte einen ganz besonderen Gesichtsausdruck, der ihre professionellen Alarmglocken schrillen ließ. Instinktiv spannte sie die Arm- und Beinmuskulatur an. Vor ihrer Scheidung hatte sie ihn ein paar Mal so gesehen, aber er hatte sie nicht angefasst.

So war er nicht. Es musste sich um etwas anderes handeln. Sie ging ihm entgegen.
»Was ist los, Thomas?«
»Ich habe ihn gerade gesehen.«
»Wen?«
»Na, ihn. Das Schwein. Grys Mörder!«
Sie hatte das Gefühl, als würde die Wärme des Bades schlagartig verschwinden und eine Eisschicht den Nacken und Rücken überziehen.
»Wo? Was meinst du?«
Ihr Ex-Mann wedelte wie eine flügellahm geschossene Möwe hilflos mit den Armen. Lykke packte ihn hart an der Schulter und sah ihm fest in die Augen.
»Wo, Thomas. Erzähl mir, was passiert ist.«
Obwohl es über fünf Jahre her war, dass ihre Tochter unter tragischen Umständen gestorben war, standen beiden die Ereignisse noch klar vor Augen. Lykke hatte gearbeitet und Thomas auf Gry aufgepasst. Sie waren im Park gewesen. Thomas war bei den sommerlichen Temperaturen einen Moment eingenickt, als das Mädchen ihrem kleinen Hund nachlief. Es kam zu einer Konfrontation mit einem Pitbull Terrier, dessen Besitzer den Hund weder an der Leine noch unter Kontrolle hatte. Erst griff der Pitbull den
Hund an, dann das Mädchen. Und mitten in dem ganzen Tumult verschwand der Hundehalter mit dem Hund. Trotz mehrerer guter Personenbeschreibungen hatte die Polizei ihn nie gefunden.
»Wo hast du ihn gesehen?
»Im Bus.«
»In welchem Bus? Welche Linie?«
»Er ging zu Fuß.«
»Wo stieg er aus?«
»Er war doch nicht im Bus.«
Sie versuchte, ihre steigende Ungeduld unter Kontrolle zu halten. Seine Frustration war ansteckend. Lykke zwang sich zu professioneller Distanz, als würde sie jemanden im Präsidium verhören.
»Ich verstehe nicht, was du meinst. Welchen Bus? Erklär’s mir.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich bin sicher, er war es.«
»Nimm dich zusammen, Thomas!«
Er fuhr sich mit der Zunge über seine trockenen Lippen.
»Ich … ich habe den Bus genommen, weil Cecilie das Auto braucht. An den Seen kam es zu einem Verkehrsstau. Ich war mit meinem Handy beschäftigt und habe irgendwann aus dem Fenster geguckt. Es war reiner Zufall. Plötzlich bemerkte ich einen Mann mit einem Hund. Er rauchte eine Zigarette, während der Hund an einen Baum pinkelte. Er hatte mir sein Gesicht direkt zugewandt. Der Abstand zwischen uns betrug höchstens zehn Meter. Zuerst konnte ich mich nicht erinnern, wo ich ihn schon mal gesehen hatte, er kam mir nur bekannt vor. Wie bei Schauspielern, die man in einer Menge Nebenrollen gesehen hat, aber sich nie erinnern kann, in welchem Film genau.«
»Du hast den Mörder deiner Tochter nicht sofort wiedererkannt? Na, großartig.«
»Beruhig dich, lass es mich erklären.«
»All right. Du hast also einen Mann mit einem Hund gesehen.
Ich sehe jede Menge Männer mit Hunden. Was war an ihm so
besonders?«
»Das war’s ja. Es war die Art und Weise, wie er dastand. Du
hast mich doch selbst an seine merkwürdigen Zuckungen erinnert. Und der Hund war ein Pitbull.«
Sie runzelte die Stirn.
»Zuckungen? Du meinst Tics?«
»Tics, ja. Jedes Mal, wenn du mich verhört hast – und das hast
du damals ja oft getan, Schatz –, habe ich erklärt, dass er diese
Zuckungen oder Tics hatte.«
Lykke ignorierte, dass er sie »Schatz« genannt hatte. Alte Gewohnheit vermutlich. Ihr gefiel auch der Begriff »verhören«
nicht, aber wahrscheinlich hatte sie genau das getan. Sie hatte
ihn ausgequetscht, sich an so viele Details wie möglich zu erinnern. Mindestens ein weiterer Zeuge hatte der Polizei gegenüber
auch diese Tics erwähnt.
»Wie hat es sich geäußert? Es gibt viele verschiedene Tics.«
Sie kannte die Antwort genau, aber sie wollte hören, ob die
Antwort von seiner Erinnerung abwich.
»Es war der rechte Arm. Er zuckte am Ellenbogen vom Körper weg.«
Es passte zu seinen früheren Erklärungen.
»War das alles?«
»Es war die Art und Weise, wie er dastand, als er auf den Hund
wartete. Er hob den Arm, um an seiner Zigarette zu ziehen, aber
der Arm zuckte zur Seite, als ob jemand dem Ellenbogen einen
Stoß versetzt hätte. Das wiederholte sich ein paar Mal, bevor er
den Arm unter Kontrolle hatte. Es sah durchaus ein bisschen komisch aus. So hat er damals auch im Park gestanden, als er sein
Raubtier angeleint hatte und versuchte, sich eine Zigarette anzustecken.«
Wieder eine Übereinstimmung.
»Hast du sein Gesicht gesehen?«
»So deutlich, wie ich dich jetzt sehe. Ich würde ihn in einem
vollen Fußballstadion erkennen. Er hat sehr blasse Haut und …
nicht kahl, aber sehr kurz geschoren, du weißt schon, so eine
Schuhbürstenfris…«
»Welche Haarfarbe?«
»Hellblond, vielleicht ein bisschen rötlich, und so ein kantiges,
etwas eingefallenes Gesicht. Seine Augen sind klein und sitzen
dicht zusammen.«
»Farbe?«
»Grün.«
»Bist du sicher?«
»Oder blau. Auf jeden Fall nicht braun.«
»Bekleidung?«
»Er trug einen schwarzen Kapuzenpullover, eine Jogginghose
und Turnschuhe.«
»Dick? Dünn?«
»Es war ein großer Pullover, aber er sah im Park eher dünn
aus. Hör schon auf, wir haben das schon millionenfach durchgespielt. Er hatte an dem Tag ein eng sitzendes T-Shirt an. Er ist
schmächtig und groß. Wie ich.«
»Du bist nicht groß, Thomas. Du bist mittelgroß.«
Er machte ein gekränktes Gesicht.
»Ich bin eins achtzig.«
Keine Übereinstimmung. Laut seinem Ausweis war er hundertzweiundsiebzig Zentimeter groß, allerdings mit Schuhen.
»Alter?«
»Zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Er war es, Lykke. Ich
bin mir absolut sicher.«
Sie musterte ihn skeptisch.
»An welchem See war das?«
»Sortedam. Der mit der Vogelinsel.«
»Warum bist du nicht ausgestiegen und hast ihn verfolgt?«
»Das wollte ich doch, aber dann wurde die Ampel grün, und
der Bus fuhr weiter. Ich bin zum Fahrer gelaufen, er sollte anhalten und mich rauslassen, aber das wäre zwischen den Haltestellen nicht möglich, hat er gesagt. Er hätte einen Zeitplan und
könnte nicht auf diese Weise den Verkehr blockieren. Ich sagte,
es ginge darum, einen Mörder zu fangen, aber das hat er mir
nicht abgenommen. Vermutlich hat er geglaubt, es mit einem
psychisch Gestörten zu tun zu haben. Also musste ich bis zur
nächsten Haltestelle warten, bevor ich aussteigen konnte.«
»Und was hast du dann gemacht?«
»Ich habe versucht, dich anzurufen. Und ich bin natürlich zurückgelaufen, bis zum Ende des Sees, aber er war nicht mehr da.
Ich habe mehrere Fußgänger gefragt, ob sie einen Mann mit einem Hund gesehen hätten. Ich habe ihn beschrieben. Eine junge
Frau meinte, sie hätte vielleicht einen Burschen gesehen, auf den
die Beschreibung passt, aber sie wusste nicht, wohin er gegangen war. Ich bin auch durch die nächsten Seitenstraßen gelaufen,
aber er war verschwunden.«
»Und der Hund war ein Pitbull? Bist du sicher?«
»Ja, absolut sicher. Er war es. Diese weiße Fratze, die Frisur
und diese nervösen Zuckungen, diese Tics.«
Die Tics waren der vielversprechendste Hinweis. Nicht allzu
viele Menschen hatten derartige Zuckungen, und die Götter
wussten, dass sie in all den Jahren danach Tausende junger Männer in Kopenhagen und Umgebung beobachtet hatte, ob sie unfreiwillig mit den Armen zuckten.
»Vielleicht wird die Gegend von Videokameras überwacht«,
murmelte sie vor sich hin.
»Da gibt’s aber keine Läden«, wandte er ein.
Lykke grübelte.
»Die Verkehrsüberwachung könnte sie installiert haben.
Wieso hast du mich nicht einfach angerufen und weitergesucht,
statt Zeit zu verschwenden und hierherzukommen?«
»Das habe ich doch schon gesagt. Du bist nicht ans Telefon gegangen.«
Das schlechte Gewissen meldete sich, obwohl es eigentlich
keinen Grund dafür gab. Sie verteidigte sich.
»Ich war im Bad, okay?«
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass er sie mit einem kleinen Lächeln betrachtete. Tatsächlich stand sie nur mit einem Höschen
bekleidet vor ihm.
»Im Augenblick verstehe ich gar nicht, warum wir uns getrennt haben«, sagte er. »Die Jahre mit dir und Gry waren die
schönste Zeit meines Lebens.«
Sie widersprach nicht, obwohl es eine Schlange im Paradies
gegeben hatte. Seine Mutter.
»Du bist so hübsch«, fügte er hinzu und wollte ihre Hand ergreifen, aber sie zog sie zurück. Den Bruchteil einer Sekunde
hatte sie gemeint, es sei ein billiger Trick, um ihr Verhältnis wieder aufleben zu lassen, aber eigentlich traute sie es ihm trotz allem nicht zu.
Sie ging zum Schrank und zog ein T-Shirt an.
»Ich werde es überprüfen. Vielleicht können wir ihn irgendwie lokalisieren, und sei es nur, um ihn auszuschließen.«
»Er war es, Lykke.«
Sie hörte, dass er es ernst meinte.



Als Hauptkommissar Rudi Lehmann ankam, glich der Tatort
einer Belagerung. Streifenwagen, die Wagen der Kriminaltechnik und der Kombi eines Bestatters umringten das bescheidene
Haus, das heruntergekommen aussah. In dem ungepflegten Garten ging ein Kollege der KTU suchend auf und ab.
Die umliegenden Häuser waren größer und auch jüngeren
Datums. Auf der einen Straßenseite stand eine Messstation,
auf der anderen lag ein leer stehendes Grundstück. Man hatte
den Eindruck, als hätten die Nachbarn sich von dem Haus mit
dem Flachdach bewusst zurückgezogen. Als hätte man gewusst, dass hier eines Tages ein Gewaltverbrechen stattfinden
würde.
Eine Gruppe von Anwohnern hatte sich hinter dem polizeilichen Absperrband auf der gegenüberliegenden Straßenseite versammelt, und ein uniformierter Beamter hielt diejenigen zurück,
die es nicht respektieren wollten. Der erste Journalist war auch
bereits erschienen. Vergeblich versuchte er, von dem Beamten
Informationen zu bekommen.
Rudi parkte hinter dem Wagen des Bestatters, dessen Türen
am Heck offen standen. Ein Mann sortierte mit dem Rücken zu
ihm Materialien. Auf den Schienen wartete einer der Särge, in
dem die Opfer abtransportiert wurden. Als der Kommissar ausstieg, drehte der Mann sich um und nickte. Horst Mihlnetz. Einer der Abgehärteten, der bei Mordfällen gerufen wurde. Vor allem bei den brutaleren.
»Tag, Rudi. Kalt heute.«
Rudi Lehmann setzte sich seinen Rangerhut mit dem geflochtenen Riemen auf und blickte in den grauen, regnerischen Himmel. Er nickte.
»Hm. Sieht nach einer guten Entschuldigung für ein gutes
Buch im Sessel aus.«
»Aber nicht in dem Sessel da drin.«
Mihlnetz wies mit dem Daumen über die Schulter.
»Schlimm?«, erkundigte sich Rudi und steckte die Hände in
die Taschen seiner offen stehenden Jägerjacke. Er ging nie auf
die Jagd, aber die Jacke hatte eine Menge praktischer Taschen,
außerdem ließ sie sich angenehm tragen.
»Eines der übelsten Verbrechen, die ich seit Langem gesehen habe.« Horst sah wütend aus. »Wer ermordet denn eine alte
Dame auf so bestialische Weise?«
Rudi hob eine Augenbraue.
»Das klingt nach etwas Persönlichem. Also, was den Täter betrifft.«
Als er sich der Absperrung näherte, wurde er von dem Beamten wie auch von dem Journalisten erkannt. Der Polizist hob das
Band, sodass Rudi darunter durchkriechen konnte, während der
Journalist versuchte, auf sich aufmerksam zu machen.
»Hallo, Herr Kommissar! Können Sie uns einen Tipp geben,
was hier passiert ist?«
»Vermutlich etwas mit einem Sessel.«
Der Journalist sah verwirrt aus.
»Was?«
»Eine offizielle Stellungnahme erfolgt später.«
Er ging um ein paar Streifenwagen herum. Zwei Beamte saßen in einem der Fahrzeuge und unterhielten sich. Sie winkten
Rudi kurz zu, der auf eine schmale Haustür in der abgeblätterten Fassade zuging. Sie stand halb offen. In einem engen Flur
mit drei Türen stand ein weiterer Kriminaltechniker mit einem
Fotografen.
»Guten Tag, Rudi«, sagte der Techniker und zog ein paar
Gummihandschuhe ab. Er zeigte auf die linke Tür. »Da drinnen
geht’s los.«
»Du klingst, als würde gleich die Vorstellung beginnen, Fritz.«
»Die Vorstellung ist zu Ende, und ich bin froh, dass ich nicht
dabei war.« Er schüttelte den Kopf. »Ich werde die menschliche
Boshaftigkeit vermutlich nie begreifen.«
Rudi warf einen Blick auf einen offenen Metallkoffer mit
Utensilien.
»Muss ich den Strampelanzug anziehen?«
»Dazu bist du wahrscheinlich schon zu groß, aber nein,
brauchst du nicht. Wir sind fertig, und Karli hat seine Fotos.
Nicht wahr, Karli?«
»Jep. Ich gehe jetzt nach Hause und poste sie auf Facebook.«
Rudi sah ihn ein wenig verblüfft an. Fritz Tappert grinste.
Karli zuckte die Achseln. »Ihr wisst doch, wie das ist.«
Rudi verstand. Nach mehr als dreißig Jahren mit ernsten Verbrechen, brutalen Morden und Misshandlungen wusste er, dass
ein wenig schwarzer Humor die erdrückende Stimmung erträglicher werden ließ, die immer an einem Tatort herrschte.
Er öffnete die Tür zu einem länglichen Wohnzimmer mit einer niedrigen Decke. Es war ebenso kalt wie draußen, kaum
über zehn Grad, im Raum hing ein modriger Geruch. Die Einrichtung stammte aus den munteren Siebzigerjahren. Rudi sah
sich einen Moment selbst als großen Teenager in Jeans-Klamotten. Mit seinen Freunden hatte er Hasch geraucht, Pink
Floyd gehört und die Mädchen zu Touren auf dem Moped eingeladen.
Nahe am Fenster zur Straße befand sich ein quadratischer
Esstisch mit zwei dazugehörigen Stühlen. Sie waren nicht auffällig schmutzig, aber die Tischplatte war staubig. Einige bedauernswert aussehende Topfpflanzen hingen an ihren Stängeln auf
dem Fensterbrett. Überhaupt sah es so aus, als stünden die Möbel eher zufällig beieinander. Auffällig war der abgelaugte Dielenboden.
Mitten im Zimmer sah er ein kleines Sofa mit einem niedrigen Tisch.
In der hintersten Ecke thronte eine große Kommode, daneben
stand der Sessel, in dem die Leiche saß. Der Raum war in das
grelle Licht transportabler Scheinwerfer getaucht, das der Tapete
einen krankhaft violetten Ton verlieh, der irgendwo zwischen
verfaulten Pflaumen und Wundbrand lag.
Zwei Polizisten in Zivil warteten am Esstisch. Kommissarin
Nora Bender und Walter Krause, der jüngste Kriminalkommissar der Polizei Flensburg. Er war mit seinen siebenundzwanzig
Jahren ehrgeizig, energisch und dienstwillig, aber im Augenblick war er so bleich, als müsste er sich jeden Moment übergeben.
»Na, da bist du ja, Lehmann«, sagte Bender mürrisch. »Wurde
auch Zeit.«
Rudi tat, als hätte er es überhört.
»Tag, Bender. Hej, Walter.«
Krause schluckte und starrte zum Fenster hinaus, Nora Bender musterte Rudi, als wäre er ein Penner, der um fünfzig Cent
für ein Bier bettelte.
»Sieht aus, als hättest du wieder mal gewonnen.«
»Äh, ich verstehe nicht …«, erwiderte Rudi.
Benders raue Stimme war dominant in dem Raum.
»Krause und ich hatten diesen Fall, aber ich erhielt gerade einen Anruf von Seibeck. Wir werden zu einem anderen Fall abgezogen, du bist dran.«
Franz Seibeck war der Polizeichef von Flensburg und ihr gemeinsamer Vorgesetzter.
»Warum?«
»Was weiß ich, welchen Arsch du geküsst hast, aber jetzt
kannst du es dir mit ihr da gemütlich machen.«
Wütend wies sie mit dem Kopf in Richtung Sessel.
Nora Bender hatte Rudi nie gemocht, und er verstand nicht,
warum. Sie war eine kräftig gebaute Frau mit schwarzer BruceLee-Frisur und Gesundheitsschuhen. Immer trug sie braune
oder schwarze Merkel-Hosenanzüge, roch nach Eukalyptus und
verzog nie eine Miene zu einem Lächeln, selbst wenn er seine komischsten Witze erzählte.
»Ihr wart zuerst hier. Was habt ihr herausgefunden, wenn ich
fragen darf?«
Nora Bender rümpfte die Nase. Sie ging zu dem Sessel, Rudi
folgte ihr. Bei der Toten handelte es sich um eine ältere Frau,
schmächtig und nicht sehr groß. Sie sah aus, als hätte sie ein paar
Tage in dem Sessel gesessen. Die hervortretenden Blutadern
zeichneten sich als blaue Linien unter der dünnen Haut ab. Rudi
schätzte ihr Alter auf fünfundsiebzig bis achtzig Jahre. Ihr Gesicht war aufgedunsen und verunstaltet durch Faustschläge oder
Schläge mit einem stumpfen Gegenstand. Die Haut war nicht
aufgeplatzt. Sie hatte keine Möglichkeit gehabt, sich zu wehren,
da sowohl die Arme als auch der Körper fest an den Sessel gebunden waren. Doch sie war nicht an den Misshandlungen gestorben. Das Einschussloch in der Herzregion war gesprenkelt
von Pulverrückständen, was einen Schuss aus nächster Nähe vermuten ließ. Rudi hatte in seiner langen Karriere viele bedauernswerte Mordopfer gesehen, aber die Frau im Sessel übertraf die
meisten. Die Gewalt und die Erniedrigung waren schlimm genug, aber es war ein Detail, das den Ausschlag gab. Im Schoß der
Leiche lag der Kadaver eines blutverschmierten Vogels. Es sah
aus, als wäre er dort sorgfältig hingelegt worden, er lag auf einem Flügel, der andere war ausgestreckt. Eine Taube. Ein blauer
Kunststoffring saß um das eine Bein.
Rudi räusperte sich.
»Irgendwelche Erkenntnisse?«
Nora Bender zuckte die Achseln.
»Es ist eine Taube«, sagte sie.



»Wo bist du, du Köter?«
Lykke scannte das nördliche Ende des Sortedam Sø mit einem
Taschenfernglas. Ein Jogger und eine junge Mutter mit Kinderwagen waren die Einzigen auf dem Weg, an dem sie stand. Am
gegenüberliegenden Ufer sah sie zwei junge Mädchen auf einer
Bank und ein Paar mit einem kleinen Kind.
Es war zwanzig Minuten her, seit sie ihre Wohnung in der
Dannebrogsgade mit Thomas verlassen hatte. Ihn traf keine
Schuld an der Tragödie, und doch gab es irgendwo ganz tief in
ihr ein Gefühl der Wut, dass er an diesem Tag nicht besser aufgepasst hatte. Er war eingeschlafen und hatte ihr Kind einem
fürchterlichen Schicksal im Maul eines geifernden Pitbull Terriers überlassen.
Thomas nahm immer wieder Kontakt zu ihr auf, als versuchte er,
ihre Beziehung wiederzubeleben. Allerdings wusste sie, dass dies
unmöglich war. Er war noch immer ein durchaus attraktiver und
charmanter Mann, aber er konnte seine nicht sofort ersichtlichen
irritierenden Verhaltensformen und Gewohnheiten nicht ablegen,
und sie hatte sich in den vergangenen fünf Jahren definitiv weiterentwickelt. Grys Tod würde immer über ihren Köpfen schweben,
egal, was sie unternahmen. Das Glück ließ sich nicht wiederherstellen, aber der Täter konnte gefunden und bestraft werden.
»Du hast meine Tochter ermordet«, dachte sie, als sie sich auf
der Straße von Thomas trennte. Sie wusste nicht genau, ob sie
den Mann mit dem Hund oder ihren Ex-Mann meinte.
Sie hatte das Fahrrad genommen. Man kam damit leichter und
schneller voran. Außerdem hatte sie dadurch die Möglichkeit,
sich sämtliche Fußgänger anzusehen, an denen sie vorbeifuhr.
Vielleicht entsprach ja jemand der Beschreibung des Mannes,
der seinen Hund ausgeführt hatte. Obwohl er laut Thomas in
Richtung Østerbrogade gegangen war, war sie vom Planetarium
aus an allen drei Seen entlanggefahren – in der Hoffnung, einem
schwarz gekleideten Mann mit einem charakteristischen Tic
und einem Pitbull zu begegnen. Sie zählte insgesamt fünf Hundehalter, aber keiner von ihnen passte auch nur annähernd auf
die Gesuchten, weder die Halter noch ihre Hunde.
Sie konnte sich nur an die Augenzeugenberichte ihres Ex-Mannes und einiger weniger anderer Parkbesucher halten, und damit
kam sie nicht weiter. Denn einige meinten, der Mann mit dem Pitbull sei jung gewesen, während andere sich an einen Mann mittleren Alters erinnerten. Einige behaupteten, er hätte einen Bart, andere nicht, er war gleichzeitig rothaarig und blond und hatte eine
Glatze, er war sowohl schlank als auch kräftig gebaut. So etwas erlebte sie häufig. Diesmal war es nur besonders enervierend.
Ein einziger Zeuge hatte mit seinem Handy etwas von dem
Vorfall gefilmt und die Sequenz der Polizei überlassen, aber der
Hundebesitzer war nicht auf den Aufnahmen. Er war vermutlich
zu dem Zeitpunkt verschwunden, als die Aufmerksamkeit der
meisten Anwesenden sich auf das leblose Kind in den Armen
des schreienden Mannes richtete. Lykke hatte sich die Aufnahme
nicht angesehen. Sie wusste, dass sie nie die Chance bekommen
würde, in dem Fall selbst zu ermitteln, aber das hinderte sie nicht
daran, ihre Antennen auszufahren.
Im Polizeipräsidium gab es einen ähnlichen Fall. Die Ehefrau
des Ermittlungsleiters Roland Triel war in ihrem Haus brutal ermordet worden. Als der Fall nach mehreren Jahren geschlossen
wurde, stellte sich heraus, dass Triel sämtliche Akten und Fotos
kopiert hatte. Er ermittelte in dem Mordfall auf eigene Faust, allerdings erfolgreich. Es blieb bei einer Missbilligung in der Personalakte, mehr nicht. Triel war Lykkes Vorbild geworden. Er
kannte ihre Geschichte, und obwohl sie selten miteinander sprachen, hatte er sie eines Morgens mit einem Gruß aufgehalten
und ihr den freundschaftlichen, verständnisvollen Rat gegeben:
»Gib niemals auf. Er ist irgendwo da draußen.«
Thomas hatte sich nach Grys Tod psychiatrisch behandeln lassen. Auch Lykke waren Krisenhilfe und eine Therapie angeboten
worden, aber sie hatte dankend abgelehnt. Damals war der erste
Nagel zu dem Sarg ihrer Ehe eingeschlagen worden, obwohl es
schon vorher Krisen gegeben hatte, an denen vor allem ihre unerträgliche Schwiegermutter Schuld hatte.
Thomas verstand nicht  – ebenso wenig wie seine omnipräsente Mutter –, dass Lykke die ganze Situation scheinbar kaum
berührte. Natürlich war dies keineswegs der Fall, aber sie war
nun einmal von Natur aus jemand, der nicht aufgab und nach
außen hin keine Gefühle zeigte. Sie wusste, dass ihre Karriere
und damit auch die Möglichkeit beendet wäre, das Ungeheuer
zu erwischen, wenn sie erst einmal in den Klauen eines Psychiaters landete.
Diese Überlegungen gingen ihr durch den Kopf, während sie
frustriert die Wege rund um die Seen absuchte.
Als die Seeufer keinerlei Ergebnis brachten, setzte sie sich
wieder aufs Fahrrad und fuhr die Webersgade hinunter. Danach durchkämmte sie sämtliche Seitenstraßen in nordöstlicher Richtung. Sie suchte das alte Reihenhausviertel ab, das nur
»Kartoffelreihen« genannt wurde, dann die Viertel bis zur Dag
Hammarskjölds Allé. Sie endete auf dem Holmens Kirkegård,
ein Friedhof, der ein populärer Ort für Gassi gehende Hundebesitzer war, aber auch hier gab es keine Spur des Mannes.
Lykke wischte sich über die Stirn. Zwischen den Grabsteinen
wehte ein kalter Wind. Sie trug nur eine dünne Jogginghose und
ein T-Shirt unter der Windjacke – sie schwitzte und fror gleichzeitig. Lykke sah auf die Uhr. So konnte sie nicht aufs Präsidium
fahren. Sie musste erst nach Hause und sich umziehen. Sie hatte
weder gefrühstückt noch sich geschminkt. Es war Viertel vor
neun. Sie konnte ihren Chef Hans Odín in seinem Büro bereits
hören, aber das ließ sich nicht ändern. Gewisse Dinge ließen sich
nun einmal nicht aufschieben.



»Sie heißt Andrea Hahne«, erklärte Nora Bender. »Siebenundsiebzig Jahre alt. Offenbar wohnte sie hier allein. Es gibt nur ein
Bett im Schlafzimmer und auch sonst keinerlei Anzeichen von
einem Mann oder anderen Quälgeistern.«
Rudi betrachtete die Leiche im Sessel. Ein Auge der Frau stand
halb offen. Das milchige Häutchen war ein Beleg, dass sie zwei
Tage hier gesessen hatte. Ihr weißer Haarknoten hatte sich gelöst,
wahrscheinlich infolge der heftigen Schläge, die sie ins Gesicht
bekommen hatte. Die Zähne saßen schief zwischen den Lippen.
Sie trug ein Gebiss, das allerdings nicht herausgefallen war.
»Was ist das an ihrer Hand?«, erkundigte er sich.
»Brandwunden, aber wir haben weder Asche noch einen Zigarettenstummel gefunden«, antwortete Bender.
»Wer hat sie gefunden?«
»Ein Bote des Supermarkts. Sie hatte Lebensmittel bestellt
und nutzte den kostenlosen Lieferservice. Der Bote konnte sich
gut an sie erinnern. Sie trug immer einen weiten, zugeknöpften
Mantel, eine Mütze und bei jedem Wetter eine Sonnenbrille. Sie
sprach mit niemandem, war immer allein und kaufte nur die billigsten Sachen. Krause hat mit einem Nachbarn geredet. Was hat
er gesagt, Walter?«
Der junge Ermittler blieb auf Abstand am Esstisch stehen.
»Dass sie nur mit heruntergelassenen Jalousien lebte und nie
Besuch bekam. Sie war verheiratet. Wir fanden einen Ehering
und eine Heiratsurkunde, aber auch einen Totenschein.«
»Was ist mit dem Vogel? Habt ihr irgendeine Idee, was das
soll?«
»Vielleicht eine Botschaft?«, vermutete Bender.
»Könnte sein, dass sie die Taube angelockt hat, um sie zu essen, aber der Täter hatte eine andere Idee«, vermutete der junge
Mann.
»Das ist eine zahme Taube«, widersprach Rudi. »Sie ist beringt. Sie gehört irgendjemandem.«
»Der kann jetzt Schadenersatz fordern«, bemerkte Bender
übellaunig.
»Vielleicht hat der Mörder sie mitgebracht«, sagte Krause.
»Ich glaube, es war ihre eigene Taube«, erklärte Nora Bender.
»Der Mörder hat ihr wahrscheinlich vor Frau Hahnes Augen den
Hals umgedreht. Das ist wirklich einer der widerlichsten Morde,
die ich in meinem Leben gesehen habe.«
»Noch weitere Spuren?«, wollte Rudi wissen.
»Die KTU hat eine Patronenhülse von einer 9-mm-Pistole gefunden. Sie lag an ihrem linken Fuß. Der Kreis auf dem Fußboden zeigt die Stelle, falls du Zweifel haben solltest. Also, entweder ist der Täter kurzsichtig oder es war ihm egal. In jedem Fall
wurde der Schuss ins Herz aus nächster Nähe abgegeben.«
Rudi warf ihr einen Blick zu.
»Das sehe ich.«
»Da bin ich sicher.«
Nora Bender war mürrischer als je zuvor. Rudi war kurz davor,
sie zu fragen, was er sich hatte zuschulden kommen lassen, aber
er konzentrierte sich auf die Arbeit. Er ging in die Küche. Sie
war ebenso alt und heruntergekommen wie der Rest des Hauses,
aber aufgeräumt. An der Rückseite gab es eine Tür zur Terrasse.
Ein einzelner Teller mit dazugehörendem Besteck und ein Glas
standen im Spülbecken. In einer Pfanne auf dem Herd waren
die Reste eines Spiegeleis zu erkennen. Die letzte Mahlzeit. Rudi
öffnete den Kühlschrank. Die Lampe schaltete sich langsam ein
und offenbarte leere Fächer mit nur wenigen Lebensmitteln in
Gläsern.
»Wisst ihr, ob …«
Er hörte, wie die Wohnzimmertür geschlossen wurde, und
ging zurück. Er war mit der Leiche allein. Sie saß in dem grellen Licht der Scheinwerfer. Die Schusswunde, die Schlagverletzungen und das geronnene Blut. Eine Hand lag verkrümmt auf
der Armlehne, die andere hing an der Seite herunter. Es war der
traurigste Anblick, den er je gesehen hatte. Möglicherweise verstärkte die tote Taube den Eindruck zusätzlich. Der Kopf und der
Rumpf des Vogels waren voller Blut.
Er zog die Schubläden der Kommode heraus. Die Handgriffe waren bereits auf Fingerabdrücke untersucht worden. Die
oberste Schublade war voller Papiere, einem Fotoalbum und anderen Kleinigkeiten. Die mittlere enthielt Besteck für sechs bis
acht Personen, und in der untersten Schublade lagen Tischdecken und Handtücher. Die Oberfläche der Kommode war von
einer feinen Staubschicht überzogen. Er ging zum Sofa. Auf dem
kleinen Tisch lag ein Stoffdeckchen, darauf stand ein Salz- und
Pfefferset aus billigem Silberimitat.
Rudi sah hinüber zum Esstisch. Etwas störte ihn. Es dauerte einen Moment, bis er wusste, was es war. Der Esstisch war
ebenso staubig wie die Kommode. Vermutlich, weil sie beim Essen auf dem Sofa saß, um fernzusehen. Eine betagte Kiste mit
Zimmerantenne.
Lehmann trat an den Tisch. Der rechte Stuhl war herausgezogen, als hätte sich jemand darauf setzen wollen, aber der Staub
war unberührt. Er beugte sich über die Tischplatte und bemerkte
vier kleine Punkte im Staub. Jeder Abdruck hatte die Größe einer
Zehn-Cent-Münze. Sie bildeten ein Rechteck von circa fünfundzwanzig mal fünfunddreißig Zentimetern.
Rudi richtete sich auf. Auf dem Fensterbrett lag eine kleine
Pappschachtel zwischen den traurigen Topfpflanzen. Er hob sie
mit zwei Fingern auf und hielt sie ins Licht. Kores stand auf der
Schachtel, und darunter das Wort »Farbband« in vier Sprachen.
In der Schachtel lag etwas drin. Vorsichtig öffnete er den Deckel.
Ein Farbband zwischen zwei Rollen.
Horst Mihlnetz steckte den Kopf zur Tür herein.
»He, Rudi. Weißt du, wann wir die Leiche abholen können?
Der Rechtsmediziner will sie so rasch wie möglich sehen. Seibeck fürchtet, dass die Medien sich auf den Fall stürzen werden,
er möchte daher vorbereitet sein.«
»Wegen mir könnt ihr gern anfangen.«
»Super. Dann beginnen wir …«
»Ist Fritz schon gefahren?«
»Er ist dabei, seine Sachen zu packen.«
»Schickst du ihn bitte noch mal zu mir, wenn du den Leichensack holst?«
»Klar, einen Moment.«
Es verging eine Minute. Dann kam der Kriminaltechniker. Er
hatte seinen Overall bereits ausgezogen.
»Was kann ich für dich tun, Rudi?«

 

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