Leseprobe »Gezeitenmord« von Dennis Jürgensen

»Gezeitenmord«

Mord kennt keine Grenzen: Der erste Fall des deutsch–dänischen Ermittlerteams

Es ist Lykke Teits erster eigener Fall — endlich darf sie die Ermittlungen in einem Mordfall leiten. Dass sie den toten Mann kannte und er sich verfolgt fühlte, verschweigt sie. Da die Leiche im Watt auf der Grenze zwischen Dänemark und Deutschland gefunden wurde, wird ihr Rudi Lehmann aus Flensburg zur Seite gestellt. Die Suche nach dem Täter beginnt — und nach einem verschwundenen Jungen …

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Leseprobe

1. Kapitel

Der Nebel zog wie ein lautloses, leibhaftiges Monster vom Meer auf. Er hatte gesehen, wie die Front sich näherte, und gedacht, sie könnten das Festland problemlos erreichen, doch innerhalb weniger Augenblicke verschluckten weiße Leere und eisige Kälte die ausgedehnten Sandflächen. Die gezackten Konturen des Horizonts verwischten, der Deich verschwand in der Ferne.
Eigentlich hätten sie gar nicht so weit draußen im Watt sein sollen, aber der Junge hatte ständig neue, weiter entfernt liegende Gegenstände gefunden, und Lasse hatte die zahlreichen Vogelschwärme beobachtet, die sich in der riesigen Speisekammer der Natur bedienten. Es hatte allerdings auch etwas Verlockendes, auf dem Meeresgrund hinauszugehen, als könnte man bis England laufen, würden die Gezeiten es zulassen. Und genau das taten sie nicht.
Trotz des Nebels befanden sie sich nicht in unmittelbarer Gefahr, glaubte er. Er prüfte immer den Tidenkalender, bevor er hinausging. Es dauerte noch mindestens eine Stunde, bis die Flut kam. Er war hier bestimmt hundertmal gewesen, normalerweise jedoch allein, ohne die Verantwortung für jemand anderen. Als die letzten Reste der Welt in einem grau wirbelnden Nichts verschwanden, sah er sich um und stellte fest, dass es überall gleich aussah.
»Villads!«
»Ich bin hier drüben.«
Der Junge antwortete sofort. Er klang verhältnismäßig nah, aber die Entfernung war unmöglich einzuschätzen. Er könnte zehn Meter von ihm entfernt sein, fünfundzwanzig Meter oder noch wesentlich weiter.
»Du brauchst nicht nervös zu werden«, rief er. »Es ist nur Nebel, aber wir müssen jetzt sofort zurückgehen.«
»Ich hab keine Angst. Ich bin schon mal im Nebel gewesen.«
»Bleib ruhig. Ich komme.«
»Ich bin elf Jahre alt, Lasse, keine fünf.«
Die Stimme klang nun noch weiter entfernt.
Lasse meinte, drei, vier Meter entfernt einige Seegrasbüschel erkennen zu können, das war aber auch alles. Dort endete sein Universum. Die Welt war auf einen Umkreis von maximal zehn Metern reduziert. Scheinbar. Die Seegrasbüschel verloren sich im Nebel und kamen ihm in seiner Fantasie wie sich windende Fangarme eines Wesens vor, das außerhalb seines Blickfeldes lauerte.
»Ich komme jetzt zu dir!«
Sekunden später war auch das Seegras verschwunden. Von seinen Stiefelspitzen sah er nur noch knapp einen Meter weit. Es war der dichteste Nebel, den er je erlebt hatte. Er ging über ein Feld mit Tausenden von leeren Schalen toter Scheidenmuscheln. Sie knackten wie dünnes Eis. Eine splitternde, hässliche Melodie, die alles übertönte.
»Villads?«
»-ch -ier drüben –«
Lasse blieb stehen.
»Was?«
»Ich bin hier drüben.«
»Wo? Rede mit mir!«
»Bei einem alten Eisengestell. Es ist im Sand versunken.«
Die Stimme klang noch weiter entfernt, oder bildete er es sich nur ein?
Lasse hörte ihn ein paarmal husten und stapfte von dem Muschelgürtel auf reinen Sand. Der Nebel war hier nicht ganz so dicht. Zwei große Steine warteten wie schwarze Körper darauf, überschwemmt zu werden – wie alles hier draußen. Er sah auf die Uhr. In einer Dreiviertelstunde würde er hier, wo er stand, den Boden nicht mehr berühren können. Bis zum Strand würden sie mindestens eine Viertelstunde brauchen, wenn sie rasch gingen und den direkten Weg nahmen. Es reichte nicht, sich vom Wasser zu entfernen, wenn man die Küste nicht sehen konnte. Die Priele konnten täuschen, Erhöhungen im Meeresboden umfließen und einen in die falsche Richtung dirigieren. In weiter Ferne war ein Nebelhorn zu hören, ein beinahe spöttisches Geräusch. Es konnte aus Højer kommen, vielleicht aber auch aus südlicher Richtung. Möglicherweise von der anderen Seite des Rickelsbüller Koog. Er war so gut wie vollkommen desorientiert.
»Villads?«
»Hier.«
»Was machst du denn da? Wieso antwortest du nicht?«
»Hier ist irgendetwas.«
Die Antwort kam aus einer vollkommen unerwarteten Richtung. Lasse drehte sich um.
»Du darfst nirgendwo hingehen. Ich komme zu dir.«
»Ich bleibe stehen, aber ich habe etwas gefunden. Es sieht … merkwürdig aus.«
Der Junge klang beunruhigt und gleichzeitig abgelenkt, als kämen die Worte automatisch, weil er sich auf etwas ganz anderes konzentrierte.
»Zähl laut bis hundert, damit ich dich finden kann«, forderte Lasse ihn auf. »Hast du verstanden?«
»Warte mal … also, da ist etwas im …«
Auch Lasse sah etwas, das nicht da sein sollte.
Das Meer.
Es floss in kleinen, glucksenden Rinnsalen um seine Stiefel. Das konnte nicht sein. Noch nicht. Er hielt die Hand dicht vors Gesicht und schauderte. Die Uhr ging nicht! Der Sekundenzeiger stand still. Es war ein Erbstück seines Vaters. Sie musste aufgezogen werden, was er pflichtschuldig jeden Morgen tat, auch heute, aber vielleicht hatte das Salz im Wind den Stillstand verursacht. Oder ihre Lebenszeit war vorbei.
Plötzlich hörte er einen Schrei. Lasse zuckte zusammen. Der Schrei des Jungen setzte ihn in Bewegung.
»Villads! Was ist los? Rede mit mir!«
»Beeil dich! Ich glaube, ich habe einen Toten gefunden!«
Der Junge hatte eine lebhafte Fantasie.
»Das ist nicht komisch. Du bleibst jetzt dort stehen und zählst laut! Es ist ernst, verstehst du? Wir müssen zurück, jetzt sofort! Die Flut kommt!«
»Es stimmt aber, Lasse! Hier liegt jemand im Sand! Beeil dich! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun …«
Lasse spürte, wie ihm das Blut aus seinem kalten Gesicht wich. Es war kein Scherz. Es klang wie echte Angst.
»Ich komme!«, schrie er. »Zähl weiter!«
Das Kommando war überflüssig. Villads hatte bereits die vierzig erreicht und zählte mit lauter, schriller Stimme weiter. Lasse lief, so schnell er konnte. Die Furcht schien ihn über den Sand zu tragen, in dem die kleinen rinnenden Bäche immer breiter wurden und zu größeren Pfützen zusammenflossen.
»Fang von vorn an, wenn du bei hundert bist. Du darfst nicht aufhören, bevor du mich siehst!«
Er rannte wie ein Hahn, dem man den Kopf abgeschlagen hat. Das Fernglas hämmerte gegen sein Schlüsselbein. Er spürte, wie er in Panik geriet, blieb stehen und drehte sich einmal um sich selbst, wie nach einer Karussellfahrt. Der Nebel schien wie ein Lappen in seinem Gesicht zu kleben. Und je mehr das Wasser ihm zwischen die Füße rann, desto tiefer kroch die Angst ihm unter die Haut.
Villads zählte noch immer, und Lasse lief jetzt kontrollierter weiter. Plötzlich erkannte er die Konturen einer kleinen Gestalt. Erleichterung überkam ihn. Zumindest, was dieses Problem anbetraf, denn als er den Jungen deutlicher sah, bemerkte er seinen verstörten Blick. Mit einem ausgestreckten, zitternden Arm zeigte er auf etwas, als würde er nicht wagen, näher heranzugehen.
»Er hat eben etwas gesagt … da war so ein Geräusch im Sand … ich glaube, er lebt …«
Angst löste Lasses Gefühl der Erleichterung ab.
»Was hast du …?«
Villads stand hinter einem eingesunkenen Seezeichen aus abgeblättertem grünem Metall und zeigte auf eine Stelle im Sand. Um Atem ringend ging Lasse um das Hindernis herum und blickte auf ein Gesicht, das ihn vom Meeresboden aus anstarrte. Im ersten Moment glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu können, als müsse es sich um eine Illusion handeln, eine gestrandete Qualle, von denen es hier viele gab, aber irgendetwas war falsch. Größe und Form passten, aber Farbe und Textur ähnelten keineswegs einer Qualle.
Es war schwierig, im Nebel Details zu erkennen. Lasse ging in die Hocke und beugte sich vor. Es sah wirklich aus, als würde ihn ein Gesicht aus dem Sand anstarren. Er sah die Andeutung von zwei ovalen Punkten, die Spitze einer Nase und einen Umriss, der einem halb geöffneten Mund ähnelte.
Lasse ging durch den Kopf, dass das menschliche Gehirn versucht, in abstrakten Dingen wiedererkennbare Muster zu finden, so, wie man im Sommer auf einer Wiese im Gras liegen und in den treibenden Wolken Tiere und Fantasiefiguren erkennen kann. Diese Erscheinung war jedoch so markant, dass sie sich nicht ignorieren ließ. Vorsichtig legte er die Fingerspitzen auf den Umriss und kratzte so viel Sand weg, dass sich zwei Augen, eine deutlich gebogene Nase und ein Mund mit aufgesprungenen Lippen zeigten. Ein schrilles Seufzen stieg von dem Bild auf. Lasse schnappte nach Luft, seine Hand zuckte zurück, als wäre er gebissen worden. Er verlor das Gleichgewicht und setzte sich auf den Hintern.
»Er lebt!«, schrie Villads.
Lasse war blitzschnell wieder auf den Beinen, sein Puls raste, aber er blieb stehen.
»Beruhige dich, Villads, er ist tot. Der Meeresboden gibt Geräusche von sich, wenn man ein bisschen darin gräbt.«
Klang er überzeugt? Er hoffte es, denn er war es nicht.
Lasse ging noch einmal in die Hocke, schaltete die Taschenlampe seines Smartphones ein und richtete sie auf das Gesicht. Es handelte sich um einen Mann, der bereits einige Zeit tot war. Jetzt war er sicher. Das linke Auge war aufgerissen, das rechte nur leicht geöffnet. Die matten Häutchen über der Iris waren milchig, eingetrocknet und von einer feinen Schicht Sand bedeckt. Lasse stand auf. Villads kam langsam näher und griff nach seiner Hand. Das hatte er noch nie getan.
»Was ist passiert, was glaubst du?«
Lasse sah das Gesicht beunruhigt an. In den Nebelschwaden sah es aus, als würde es leben, doch das war eine Täuschung. Sein Verstand schrie, sie müssten sich beeilen, wenn sie nicht selbst hier draußen ihr Leben beenden wollten, aber fasziniert von dem Fund blieb er dennoch stehen.
»Glaubst du, die Flut hat ihn überrascht?«
»Ich weiß es nicht, aber wir können jedenfalls nichts für ihn tun. Wir müssen sofort zurück.«
»Er kann doch nicht hier liegen bleiben?«
Lasse war ratlos. Wenn sie den Mann ohne Markierung zurückließen, riskierten sie, dass die Unterströme das Gesicht vollkommen mit Sand bedeckten und die Polizei den Toten nie finden würde, aber bleiben konnten sie auf keinen Fall. Die Flut hatte diese Stelle bisher nicht erreicht, weil sie auf einer niedrigen Sandbank standen, die allerdings bereits von Wasser umgeben war. Kleine Wassertentakel krochen wie eifrige Finger auf sie zu.
Lasse blickte auf das Seezeichen. Es war aus Metall, mindestens vier Meter lang und hatte sich tief in den Meeresboden gebohrt. Diese Markierung würde sich nicht bewegen. Irgendwer hustete im Nebel.
»Da kommt jemand«, flüsterte Villads. Schritte platschten hinter dem Seezeichen. Ein Schatten wuchs aus dem Dunst, ein großer Mann. Er hatte kein Gesicht. Es verschwand in den Nebelschwaden. Wie eine Schlange wirbelte eine lange Kette durch die Luft.
»Pass auf!«, schrie Villads und sprang beiseite.
Die Glieder der Schlange zischten, bevor sie zubiss. Der Schlag traf Lasse wie ein lähmender Schuss und schleuderte ihn rücklings zu Boden.

Dennis Jürgensen, geboren 1961, ist einer der beliebtesten dänischen Kinder- und Jugendbuchautoren und hat mehr als 60 Bücher veröffentlicht. 2014 startete er mit dem ersten von sechs Bänden seiner Krimireihe um den Kriminalhauptkommissar Roland Triel, die in Dänemark verfilmt wurde. »Gezeitenmord« ist der Beginn einer neuen Reihe, die in zahlreichen ...

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