Kapitel 1
GEBÄRMUTTER AUF WANDERSCHAFT
Vor vielen Jahrhunderten erkrankte auf der griechischen Insel Kos ein Mädchen. Sie war seltsam schwach, die Brust fühlte sich schwer und eng an. Bald bekam sie Schüttelfrost, das Herz tat ihr weh, schreckliche Halluzinationen schwirrten ihr durch den Kopf. Sie irrte durch die Straßen und wollte sich, gequält von innerer Glut und Pein, schon das Leben nehmen. Sich in einen Brunnen zu stürzen oder an einem Baum aufzuhängen wäre eine Wohltat gewesen, verglichen mit den Qualen, die Körper und Geist erfasst hatten. Ihr Vater rief einen Arzt, also einen in der Heilkunst ausgebildeten Mann. Dem Arzt war diese Krankheit schon bei anderen Mädchen begegnet, die menstruierten, aber noch nicht verheiratet waren. Solange sie sich noch in der Pubertät befanden, brauchten sie das reichlich vorhandene weibliche Blut für das Wachstum, so der damalige Wissensstand. Sobald sie aber zur Frau gereift waren, sammelte sich das Blut in der Gebärmutter, aus der es jeden Monat abfloss. Wie jeder Arzt damals wusste, bewahrte sich der weibliche Körper auf diese Art seine Gesundheit. Dieses Mädchen aber ertrank im eigenen Blut, da das Blut keine Möglichkeit hatte abzufließen. Vielmehr ströme es von der Gebärmutter zurück in die Adern, betäube das Herz und vergifte die Sinne. Der Arzt empfahl dem Vater des Mädchens, sie unverzüglich zu verheiraten. Der Geschlechtsverkehr werde den Körper öffnen, sodass das Blut abfließen konnte, und mit einer Schwangerschaft werde sie wieder völlig gesund werden.
In einer anderen Familie auf Kos wurde eine ältere Frau von gewaltigen Zuckungen geschüttelt. Die Augäpfel rollten nach hinten, die Zähne knirschten, aus dem Mund trat schäumender Speichel. Die Haut war kalt wie der Tod, der Unterleib verkrampfte sich vor Schmerzen. Der Ehemann der Kranken rief den Arzt. Diese Krankheit befiel häufig Frauen ihres Alters, die keinen Geschlechtsverkehr mehr hatten und keine Kinder mehr gebaren. Der Arzt musterte die sich krümmende und schluchzende Frau und bemerkte ihre feucht-kalte Haut. Die Gebärmutter der Frau sei – leer und trocken, weil sie nicht mehr gefüllt wurde – auf der Suche nach Feuchtigkeit zur Leber gewandert. Dort blockiere sie das Zwerchfell und raube der Frau den Atem. Die Frau werde von ihrer eigenen Gebärmutter erstickt. Der Arzt hoffte nun, Schleim werde aus dem Kopf hinabfließen, die Gebärmutter befeuchten und wieder nach unten drücken. Er hörte den Bauch der Frau nach den Gurgelgeräuschen einer Gebärmutter ab, die an ihren angestammten Platz zurückkehrt. Falls das Organ zu lange in der Nähe der Leber verharrte, würde die Frau ersticken. Hätte sie nur regelmäßig Geschlechtsverkehr gehabt, so wäre ihr dieses Elend erspart geblieben.
Frauen wie diese geistern durch das Corpus Hippocraticum, eine Sammlung medizinischer Texte, die dem Hippokrates von Kos zugeordnet werden. Der griechische Arzt, der als Vater der Medizin gilt, lebte im vierten und fünften Jahrhundert vor unserer Zeit. Als Lehrer und Arzt revolutionierte er die Heilkunst und widerlegte den jahrhundertealten Aberglauben, nach dem Krankheiten eine von rachsüchtigen Göttern verhängte Strafe seien. Er führte Krankheiten auf Ungleichgewichte im Körper zurück und entwickelte das Instrument der Fallstudie, für die er die Symptome und den Krankheitsverlauf seiner Patient:innen sorgfältig notierte. Als Therapie verordnete er Kräutermischungen. Er schwor, sämtliche Krankheiten aller Menschen nach bestem Wissen zu behandeln und den Körper eines Mannes oder einer Frau niemals zu missbrauchen. Und er versprach, den Menschen, die er behandelte, egal, ob sie frei geboren oder versklavt waren, keinen Schaden zuzufügen: Der Hippokratische Eid wurde zum Grundpfeiler der Patientenethik und wird noch heute von angehenden Ärztinnen und Ärzten geleistet.
Hippokrates zufolge mussten Körper und Krankheiten von Frauen völlig anders behandelt werden als die von Männern. Die Ärzte, betonte er, müssten ihren »Krankheitserscheinungen« auf den Grund gehen, indem sie »geradewegs die Ursache der Krankheit erfragen«. Viele Frauen, merkte er an, müssten leiden und sterben, weil der Arzt ihre Krankheiten wie »Männerkrankheiten« behandele. Hippokrates erkannte somit zwar an, dass »Frauenkrankheiten« besondere und spezifische Heilmethoden erforderten, doch das Recht von Frauen auf körperliche Autonomie und aufgeklärte medizinische Entscheidungen war ihm eher fremd. Die hippokratischen Schriften wurden zu einer Zeit verfasst, in der die meisten Frauen kaum Bürger- oder Menschenrechte besaßen. In der patriarchalen Gesellschaftsordnung des antiken Griechenland gehörten Mädchen ihrem Vater, Frauen ihrem Ehemann. Sie besaßen kein Land, kein Hab und Gut, kein Geld und konnten nicht einmal über den eigenen Körper verfügen. Sie galten als schwächere, trägere, kleinere Version des männlichen Menschenideals, als unvollkommen und unzulänglich, eben weil sie anders waren als Männer. Allerdings besaßen Frauen in diesem Anderssein das nützlichste und rätselhafteste aller Organe: den Uterus. Da Frauen einzig dazu bestimmt waren, Kinder zu gebären und großzuziehen, wurde ihre Gesundheit ausschließlich vom Uterus bestimmt. Diese medizinischen Vorstellungen reflektierten und legitimierten die Kontrolle der Gesellschaft über den weiblichen Körper und seine kostbare Fortpflanzungsfähigkeit. Gleich zu Beginn der westlichen Medizingeschichte reduzierte man kranke Frauen in den Schriften, die sich später zur Grundlage der wissenschaftlich-medizinischen Debatte und Praxis entwickelten, auf eine anonyme Masse pathologischer Gebärmuttern.