Die lang erwarteten Erinnerungen von Angela Merkel

16 Jahre trug Angela Merkel die Regierungsverantwortung für Deutschland, führte das Land durch zahlreiche Krisen und prägte mit ihrem Handeln und ihrer Haltung die deutsche und internationale Politik und Gesellschaft. Doch natürlich wurde Angela Merkel nicht als Kanzlerin geboren. In ihren gemeinsam mit ihrer langjährigen politischen Beraterin Beate Baumann verfassten Erinnerungen schaut sie zurück auf ihr Leben in zwei deutschen Staaten – 35 Jahre in der DDR, 35 Jahre im wiedervereinigten Deutschland. Persönlich wie nie zuvor erzählt sie von ihrer Kindheit, Jugend und ihrem Studium in der DDR und dem dramatischen Jahr 1989, in dem die Mauer fiel und ihr politisches Leben begann. Sie lässt uns teilhaben an ihren Treffen und Gesprächen mit den Mächtigsten der Welt und erhellt anhand bedeutender nationaler, europäischer und internationaler Wendepunkte anschaulich und präzise, wie Entscheidungen getroffen wurden, die unsere Zeit prägen. Ihr Buch bietet einen einzigartigen Einblick in das Innere der Macht – und ist ein entschiedenes Plädoyer für die Freiheit.

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PROLOG

 

Dieses Buch erzählt eine Geschichte, die es so nicht noch einmal geben wird, schon weil es den Staat, in dem ich 35 Jahre gelebt habe, seit 1990 nicht mehr gibt. Wäre sie einem Verlag frei erfunden als Roman angeboten worden, hätte man sie abgelehnt, sagte ein Gesprächspartner Anfang 2022 zu mir, wenige Wochen nach meinem Ausscheiden aus dem Amt als Bundeskanzlerin. Er kannte sich mit solchen Fragen aus und freute sich, dass ich mich entschlossen hatte, dieses Buch zu schreiben, und zwar genau wegen seiner Geschichte. Einer Geschichte, die ebenso unwahrscheinlich wie real ist. Mir wurde klar: Sie zu erzählen, Linien nachzuzeichnen, ihren roten Faden zu finden, Leitmotive zu benennen, das kann auch für die Zukunft von Belang sein.

Lange Zeit konnte ich mir nicht vorstellen, ein solches Buch zu schreiben. Das änderte sich erstmals 2015, zumindest ein wenig. Damals hatte ich entschieden, die in der Nacht vom 4. auf den 5. September aus Ungarn kommenden Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze nicht abweisen zu lassen. Diese Entscheidung, vor allem ihre Folgen, erlebte ich als eine Zäsur in meiner Kanzlerschaft. Es gab ein Vorher und ein Nachher. Damals nahm ich mir vor, eines Tages, wenn ich nicht mehr Bundeskanzlerin sein sollte, den Ablauf der Ereignisse, die Motive meiner Entscheidung, mein mit ihr verbundenes Verständnis von Europa und Globalisierung in einer Form zu schildern, die nur ein Buch ermöglicht. Ich wollte die weitere Schilderung und Interpretation nicht allein anderen überlassen. Noch aber war ich im Amt. Es folgten die Bundestagswahl 2017 und meine vierte Amtszeit. In deren letzten beiden Jahren war die Eindämmung der Coronavirus-Pandemie das alles beherrschende Thema. Die Pandemie war, wie ich öffentlich mehrfach sagte, eine einzige demokratische Zumutung: persönlich, national, europäisch, global. Sie war damit zugleich der Anstoß, den Blick zu weiten und nicht allein über die Flüchtlingspolitik zu schreiben. Wenn schon, dann richtig, sagte ich mir, und wenn, dann zusammen mit Beate Baumann. Sie berät mich seit 1992 und ist Zeitzeugin.

Am 8. Dezember 2021 ging ich aus dem Amt. Nach sechzehn Jahren verließ ich es, wie ich beim Zapfenstreich der Bundeswehr zu meinen Ehren einige Tage zuvor gesagt hatte, mit Fröhlichkeit

im Herzen. Zum Schluss hatte ich diesen Moment regelrecht herbeigesehnt. Genug war genug. Nun galt es, Pause zu machen, einige Monate auszuruhen, die Atemlosigkeit der Politik hinter mir zu lassen, um ab Frühsommer 2022 langsam und tastend ein neues Leben zu beginnen, zwar immer noch ein öffentliches, aber kein politisch aktives mehr, den richtigen Rhythmus für öffentliche Auftritte zu finden – und dieses Buch zu schreiben. Das war der Plan.

Dann kam der 24. Februar 2022, Russlands Angriff auf die Ukraine. Sofort war klar, dass es völlig ausgeschlossen war, dieses Buch zu schreiben, als wäre nichts geschehen. Schon die Jugoslawienkriege Anfang der 1990er Jahre hatten Europa erschüttert. Doch Russlands Überfall der Ukraine stellte mehr infrage. Er war ein völkerrechtswidriger Akt, der die europäische Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg erschütterte, die auf der Wahrung der territorialen Unversehrtheit und Souveränität ihrer Staaten gründete. Tiefe Ernüchterung folgte. Auch darüber werde ich schreiben. Doch dies ist kein Buch über Russland und die Ukraine. Das wäre ein anderes Buch.

Ich möchte vielmehr die Geschichte meiner beiden Leben erzählen, des ersten bis 1990 in einer Diktatur und des zweiten seit 1990 in der Demokratie. Sie sind zu dem Zeitpunkt, da die ersten Leserinnen und Leser dieses Buch in den Händen halten, ungefähr gleich lang. Zweimal 35 Jahre. Doch in Wahrheit sind es natürlich nicht zwei Leben. In Wahrheit ist es ein Leben, und der zweite Teil ist ohne den ersten nicht zu verstehen. Wie kam es, dass eine Frau nach den ersten 35 Jahren ihres Lebens  in  der  DDR  das  mächtigste  Amt,  das  die  Bundesrepublik  Deutschland  zu  vergeben  hat,  übernehmen  und  sechzehn  Jahre  lang bekleiden durfte? Die es wieder verließ, ohne während einer Amtszeit zurücktreten zu müssen oder abgewählt worden zu sein? Wie war es, in der DDR als Pfarrerskind aufzuwachsen und unter den  Bedingungen  der  Diktatur  zu  leben,  zu  studieren  und  zu  arbeiten? Wie war es, den Zusammenbruch eines Staates zu erleben? Und wie, plötzlich frei zu sein? Davon will ich erzählen.

Natürlich  ist  die  Schilderung  zutiefst  subjektiv.  Zugleich  habe  ich mich um aufrichtige Selbstreflexion bemüht. Heute als falsch Eingeschätztes werde ich benennen, für richtig Gehaltenes vertei-digen.  Dabei  ist  dies  kein  lückenloser  Bericht.  Nicht  alle  werden  sich in ihm wiederfinden, die davon vielleicht ausgehen oder von denen es erwartet wird. Dafür bitte ich schon jetzt um Nachsicht. Mein Ziel ist es, Schwerpunkte zu setzen, durch die ich die schiere Masse des Stoffes zu bändigen versuche und nachvollziehbar machen möchte, wie Politik funktioniert, welche Prinzipien, welche Mechanismen es gibt – und was mich geleitet hat.

Politik  ist  kein  Hexenwerk.  Politik  wird  von  Menschen  gemacht. Menschen mit ihren Prägungen, Erfahrungen, Eitelkeiten, Schwächen,  Stärken,  Wünschen,  Träumen,  Überzeugungen,  Wer-ten,  Interessen.  Menschen,  die  in  einer  Demokratie  für  Mehrheiten kämpfen müssen, wenn sie etwas durchsetzen wollen.

Wir schaffen das – kein Satz ist mir in meiner gesamten politischen Laufbahn so sehr um die Ohren gehauen worden wie dieser. Keiner hat so polarisiert. Für mich jedoch war dieser Satz banal. Er war Ausdruck einer Haltung. Man kann sie Gottvertrauen nennen, Zuversicht  oder  einfach  die  Entschlossenheit,  Probleme  zu  lösen,  mit Rückschlägen fertigzuwerden, Tiefpunkte zu überwinden und Neues zu gestalten. »Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege  steht,  muss  es  überwunden  werden,  muss  daran  gearbeitet  werden.«  So  habe  ich  es  in  meiner    Sommerpressekonferenz  am  31. August 2015 gesagt. So habe ich Politik gemacht. So lebe ich. So ist auch dieses Buch entstanden. Mit dieser Haltung, die auch eine Erfahrung ist: Alles ist möglich, weil nicht nur die Politik dazu bei-trägt, sondern jeder einzelne Mensch seinen Anteil daran haben kann.

 

Angela Merkel

 

mit Beate Baumann

Berlin, im August 2024

»Man fragt sich, wo zum Teufel die Kanzlerin 16 Jahre lang ihr literarisches Talent versteckt hat, den Sinn für sprechende Details, feine Zwischentöne, präzise Beobachtungen und Nebensätze, die mehr aussagen als ganze Regierungserklärungen.«

 

Navid Kermani, ZEIT Online

Angela Merkel im Gespräch mit Barack Obama

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Zum Erscheinen der US-amerikanischen Ausgabe von »Freiheit« traf Angela Merkel den ehemaligen Präsidenten Barack Obama in Washington D.C., um über ihr Buch zu sprechen.

Das gesamte Gespräch ist auf dem Youtube-Kanal von Politics and Prose verfügbar.

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Buchpremiere im Deutschen Theater Berlin

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Zum Erscheinungstag von »Freiheit« hat die ehemalige Kanzlerin ihr Buch im Deutschen Theater in Berlin vorgestellt, begleitet von der Journalistin Anne Will, die die Veranstaltung moderiert hat. Sehen Sie hier den Mitschnitt der Live-Übertragung.

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Was liest du gerade? - »Freiheit« im ZEIT Podcast

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Heftig kritisiert, nostalgisch beklatscht: Kein Buch polarisiert aktuell so sehr wie die Erinnerungen der Ex-Kanzlerin. Grund genug für ein brandaktuelles Sachbuch-Spezial von Was liest du gerade?, ganz anders als sonst: Alles dreht sich diesmal um Merkels Buch, und zu Gast am Mikro ist Heinz Bude, der Soziologe und Generationen-Experte.

Merkels Memoiren standen sofort im Zentrum der Debatten, momentan wird heftig darüber diskutiert, was ihre politischen Fehler und Irrtümer waren und wie Merkel darüber heute schreibt. In diesem Podcast versuchen wir stattdessen einen anderen, analytischen Blick: Was steckt hinter dem Merkel-Hype und dem Merkel-Bashing? Was will die Ex-Kanzlerin mit ihrem Buch? Wie typisch oder untypisch ist sie für ihre Generation, wie wichtig ist ihre DDR-Herkunft? Versteht man sie nach der Lektüre besser, die erste Kanzlerin, eine Frau aus Ostdeutschland, die dann 16 Jahre lang regierte und Weltpolitik managte? Wir wollen ergründen, wie sie das geschafft hat und was das über die Deutschen sagt – und wie Angela Merkel ihre Geschichte heute für uns erzählt.

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»Merkel bleibt auch in ihren Memoiren die kühle und kalkulierende Politikerin, die wir kennen. [...] Ihr Buch bietet einen umfassenden Rückblick auf ihre politische Karriere und die Herausforderungen, denen sie begegnete.«

 

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© © Urban Zintel

Angela Merkel, von 2005 bis 2021 Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, war die erste Frau im mächtigsten Amt, das das Land zu vergeben hat. 1954 in Hamburg geboren, aufgewachsen in der DDR, wo sie Physik studierte und zum Dr. rer. nat. promovierte, wurde sie 1990 in den Deutschen Bundestag gewählt. Von 1991 bis 1994 war sie Bundesministerin für Frauen und Jugend, von 1994 bis 1998 Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, von 2000 bis 2018 Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. 2021 beendete sie ihre aktive politische Laufbahn.

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