Kiwi-Leaks

Gehobener Wortschatz

Nachrichten über ein verschüttetes Verlagsgedächtnis und über den Wiederaufbau des Kölner Stadtarchivs.

Von MARCO VERHÜLSDONK

Das eingestürzte Historische Archiv, März 2009
© Das eingestürzte Historische Archiv, März 2009

„Neben der Warenausgabe rechts“

Wenn Joseph Beuys Recht hat und Mysterien sowieso eher im Bahnhof als im Museum stattfinden, dann wundert einen nicht, dass die Wiedererweckung des über 1000jährigen Kölner Stadtgedächtnisses an einem eher profanen Ort geschieht: im südlichen Kölner Stadtteil Porz-Lind, unweit der A 59, an einem Parkplatz, rechts neben der Warenausgabe eines großen Möbelhauses. Dort rekonstruiert man im sechsten Jahr nach seinem Einsturz das Historische Archiv der Stadt Köln. Dort wird geborgen, geordnet, restauriert und wiederaufgebaut, was 2009 unwiederbringlich verloren schien.

Unter den Trümmern des eingestürzten Stadtarchivs war auch das eingelagerte Archiv des Verlages Kiepenheuer & Witsch. Sechs Jahre nach dem Einsturz macht sich eine kleine KiWi-Delegation auf den Weg, um sich einmal vor Ort über den Stand der Dinge zu informieren. Wir, Kiepenheuer & Witsch-Verleger Helge Malchow und der Verfasser dieser Zeilen, folgen einer Einladung und besuchen das riesige, dreistöckige Restaurierungs- und Digitalisierungszentrum, kurz: „RDZ“, des Historischen Archivs. Freundlich begrüßen uns Frau Dr. Bettina Schmidt-Czaia, seit 10 Jahren „Leitende Archivdirektorin“ des Historischen Archivs der Stadt Köln, sowie die Pressesprecherin des Historischen Archivs der Stadt Köln, Frau Claudia Tiggemann-Klein, und eine zweite Archivarin, Frau Dr. Gisela Fleckenstein.
 

Vor dem Einsturz: Das Historische Archiv in der Severinstraße
© Vor dem Einsturz: Das Historische Archiv in der Severinstraße

Im November 2015  gibt es relativ gute Neuigkeiten zum KiWi-Verlagsarchiv, wir führen ein angenehmes Informationsgespräch, eine Führung durch die Hallen, Werkstätten und Labore der Restaurierung voll freundlicher Fach- und Hilfskräfte wird den Besuch dieses relativ kuriosen Ortes abrunden. Und doch, schon nach wenigen Minuten sagt die Archivleiterin Sätze, die uns schmerzhaft in Erinnerung rufen, warum wir hier sind. „Das ist das Schlimmste, was uns passieren konnte, dass das Archiv einstürzt. Das ist der absolute GAU“. Drei Jahre war Bettina Schmidt-Czaia bereits Leiterin des Archivs als es 2009 einstürzte. „Alles beginnt mit dem Einsturz. Das, was davor war, habe ich irgendwie in der Not stark verdrängt. Das Davor ist gefühlt eine Sekunde, und dann dehnt sich die Zeit unheimlich aus.“ Persönliche Worte, die neben den nackten Tatsachen die Erschütterung spürbar machen und die Zäsur, die jenes Ereignis darstellt.

Der absolute GAU

Am 3. März 2009, einem wolkenlosen Tag mit strahlend blauem Himmel, geschah das Unvorstellbare. Das Historische Archiv in der Severinstraße stürzte ein und riss zwei Menschen in den Tod. Tausend Jahre zurückreichende Geschichtszeugnisse, mittelalterliche Handschriften und andere unersetzliche Schätze, die durch die Sorgsamkeit und Weitsicht früherer Archivare bis zum 3. März 2009 alle Kriege und Katastrophen unbeschadet überstanden hatten, versanken im Schlamm einer Baugrube der U-Bahn Haltestelle am Waidmarkt. Mit dem Einsturz des 150 Jahre alten Historischen Archivs, dem Gedächtnis der Stadt Köln, wurden insgesamt 30 Regalkilometer Archivgut zerstört und verklumpt. Darunter Zeugnisse regionaler und überregionale Geschichte, rund 62.000 Urkunden und fast 2.000 Handschriften, die zum historischen Erbe Europas gehören. Originale von Albertus Magnus, Napoleon Bonaparte, Jacques Offenbach, Guiseppe Verdi, Karl Marx und Konrad Adenauer waren im Archiv untergebracht – und lagen binnen Sekunden unter Tonnen von Schrott und Trümmern. Der Einsturz des Kölner Stadtarchivs ist die größte deutsche Kulturgut-Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Bis heute hat in Köln niemand die juristische Verantwortung dafür übernommen.

Unter den Geschädigten des Einsturzes war und ist auch der Verlag Kiepenheuer & Witsch. Die gesamte Korrespondenz aus bis dahin knapp 60 Jahren Verlagsgeschichte ging 2009 erst einmal verloren. Darunter allein wohl 35.000 von ihm und an ihn geschriebene Briefe des ersten Verlegers Joseph Casper Witsch, ebenso die seines Nachfolgers Reinhold Neven Du Mont, Dokumente des Autors und Nobelpreisträgers Heinrich Böll sowie dessen Archiv, der sogenannte Vorlass von Dieter Wellershoff, Lektor und Autor des Verlages, Dokumente von Hannes Jähn, legendärer Gestalter wunderbarer KiWi-Buchumschläge, alle Verträge und Herstellungskarten, alle Protokolle, kurz die gesamten Unterlagen, mit denen sich die Tätigkeit des Verlages seit seiner Gründung 1951 belegen ließ. Der Verlag hatte sie dem Archiv anvertraut. Sie waren in der Severinstraße brand- und einbruchsicher untergebracht. Dass sie einer Fehlplanung beim Bau der U-Bahn zum Opfer fallen würden, konnte niemand ahnen.

Helge Malchow blättert in einer KiWi Archivakte
© Helge Malchow blättert in einer KiWi Archivakte, links Frau Dr. Fleckenstein, im Hintergrund Frau Dr. Schmidt-Czaia

Bergen, retten, restaurieren

Statt die Katastrophe 2009 mit einem im Köln nicht unüblichen „watt fott es, es fott!“ hinzunehmen, begann unmittelbar nach dem Einsturz und der Bergung der beiden Toten die Sisyphusarbeit am Wiederaufbau des Archivs. Dass ein Wiederaufbau möglich wäre, war zunächst alles andere als klar.
Zu Beginn wurden die Schuttkegel und Trümmer abgeräumt, dann die Archivalien vorsichtig im Morast gesichtet. Feuerwehr, Hilfsorganisationen und unzählige Freiwillige und Archivmitarbeiter bargen bis September 2009 so bis zu 85 Prozent der Bestände.

Bettina Schmidt-Czaia erklärt:„Es wurde praktisch 29 Monate lang Bergung betrieben im Dreischichtbetrieb, später im Zweischichtbetrieb, und in Bereitschaft, da wir, nachdem man oberirdisch nicht weiter kam, entschieden haben: Wir bauen ein Bergungsbauwerk und gehen in die Tiefe. Dieses ist inzwischen wieder verfüllt. Dann hat man ein Besichtigungsbauwerk errichtet und geht jetzt in Zentimeterschritten immer weiter runter.“ Beträchtliche Teile des Archivguts sind beim Einsturz bis zu 28 Meter tief unter Straßenniveau gestürzt. Daher begann 2010 die sogenannte Grundwasserbergung, bei der das nass geborgene Archivgut im Anschluss bei minus 22 Grad Celsius schockgefroren wurde.

Nach Abschluss der Grundwasserbergung im August  2011 erhöhte sich die Quote der geborgenen Archivalien auf 95 Prozent des Gesamtbestandes.
Doch geborgen bedeutet noch nicht gerettet.
Die Bergung war nur der erste Schritt auf dem Weg des Wiederaufbaus: Das Archivgut muss restauriert, digitalisiert und wieder in seine Bestandszusammenhang gebracht werden – erst dann kann von „Rettung“ gesprochen werden. Es muss wieder Ordnung in die knapp 30 Regalkilometer gebracht werden, so dass die Artefakte der Vergangenheit wieder benutzt werden können. Eine Herkulesaufgabe, denn die einzelnen Bestände des Historischen Archivs waren durch den Einsturz in völlige Unordnung geraten. Im Schutt bargen die Einsatzkräfte Manuskripte aus Schriftstellernachlässen direkt neben einem mittelalterlichen Ratsprotokoll, Bibliotheksgut, Urkunden aus dem 12. Jahrhundert und Akten des Veterinäramts. Verschmutzungen, fehlende oder kaputte Aktendeckel behinderten die Identifizierungen des Materials zusätzlich.

„Nachdem die Bergung beendet war, die oberirdische, im August 2009, suchten wir so etwas wie eine Möglichkeit, in Köln eine große Restaurierungs- und Digitalisierungswerkstatt zu errichten“, fährt Bettina Schmidt-Czaia fort. „Man hat viele Immobilien besichtigt, angeschaut, aber niemand war eigentlich bereit, das nach archivfachlichen Gesichtspunkten so umzubauen, dass die Versicherung das mitträgt, sprich in jede Etage Klimaanlagen, die ganze Sicherungsarchitektur. Wir hatte damals Glück, es gab eine Wirtschaftskrise, und die Firma Porta, die ja schon Erfahrungen während der Erstnotfallversorgung hier gesammelt hatten, erklärten sich bereit, uns das für einen längeren Zeitraum zur Verfügung zu stellen, und die Investitionen in die Ertüchtigung und fachliche Eignung des Gebäudes auf die Miete umzulegen. Wir sind 2011 dann hier eingezogen und haben angefangen, Mitarbeiter einzustellen, Fachkräfte Restaurierung, aber auch Hilfskräfte.“ Von anfangs 40 hat man im Archiv mittlerweile auf 200 Mitarbeiter inklusive Hilfskräfte aufgestockt.

In nur wenigen Monaten wurden für die 10.000 m² Fläche des RDZ Raumpläne und Konzepte erstellt und umgesetzt und archivgerechte Filter- und Klimatechnik, modernste Elektronik sowie Sicherheitsanlagen installiert. Neben Büroräumen entstanden auf diese Weise im Erdgeschoss ein digitaler und analoger Lesesaal sowie große Logistikflächen für die Anlieferung und den Abtransport von Material und Archivgut. Im 1. Obergeschoss wurden Restaurierungs- und Digitalisierungswerkstätten ebenso wie die Bibliothek, Verwaltungsbüros und Sozialräume eingerichtet. Im 2. und 3. Obergeschoss befinden sich die Magazine mit Lagerfläche für rund 18 Regalkilometer Archivgut und 250 Planschränke.

Nach grober Vorreinigung und Trocknung wurde die Archivalien im Erstversorgungszentrum in Kisten gepackt, beschriftet und nummeriert und in eines von bis zu 20 „Asylarchiven“ in Deutschland transportiert – Archive von Schleswig bis Freiburg, die dem Kölner Stadtarchiv Magazinfläche zur Verfügung stellen konnten. In diesen Asylarchiven wurden seit Oktober 2009 alle aus Köln kommenden Kartons von Fachkräften geöffnet, um den Inhalt zu identifizieren, auf Schäden zu überprüfen und, falls möglich, einem Bestand zuzuordnen bzw. möglichst genau zu beschreiben. Diese sogenannten Bergungseinheiten, ob identifizierte Akte oder nicht zuzuschreibendes Fragment, werden mittels einer speziell entwickelten Bergungssoftware erfasst und durch einen Barcode unverwechselbar gemacht.
Sukzessive werden auf diese Weise die Asylarchive nach Abschluss der Ersterfassung geräumt und die Archivalien ins Zentrum des Wiederaufbaus zurück nach Köln verbracht, hierhin, ins RDZ.

Seit Mitte 2011 ist das RDZ das logistische Drehkreuz des Historischen Archivs, hier findet die Konservierung und Restaurierung statt. Neben dem Sitz der Verwaltung am Kölner Heumarkt ist das RDZ die zweite provisorische Unterbringung der Institution.

Bestand 1514, Akte Nr. 332
© Bestand 1514, Akte Nr. 332

„Bestand 1514“

Nun, sechs Jahre nach dem GAU des Archiveinsturzes, zeigt uns die Archivleiterin eine äußerlich vollkommen intakte Akte aus dem Bestand 1514 des Stadtarchivs. 1514 – das ist derjenige des Verlags Kiepenheuer & Witsch. 800 Archiveinheiten oder 70 Regalmeter umfasste das Verlagsarchiv.

Es ist eine gelbe Akte mit Klammern, die Aktennummer ist von unten gestanzt. Aufgrund der existierenden Findbücher kann die Akte leicht mit der Datenbank der erfassten Archivalien verknüpft werden, was so viel heißt wie: diese Akte ist wieder da. Und da auch der andere Deckel auf der Rückseite noch da ist, weiß man: diese Akte ist vollständig.
Durch die sogenannte Bergungserfassung lässt sich in der Datenbank abfragen, was alles dem Bestand 1514 zugeordnet wurde.
Die vorliegende Akte der „Dienstelle: Dr. Witsch“ mit der Nummer 332 beinhaltet allgemeine Geschäftskorrespondenzen aus dem Jahr 1963, darunter einen Brief gerichtet an Alexandra von Mikell – „ehemalige Lektorin“, wie der Verleger Helge Malchow weiß.

Ein sehr großer Teil des Bestandes von K&W ist schon wieder da.
Man kann aber, laut Bettina Schmidt-Czaia, noch nicht abschließend sagen, ob 50, 80 oder 100 Prozent. „Das kann ich Ihnen erst sagen, wenn alles abgeschlossen ist. Dieser Prozess der Erfassung läuft noch zwei, drei Jahre.“
Fest steht aber: Derzeit gibt es nur die virtuelle Zusammenstellung in einer sogenannten chaotischen Lagerung. Physisch ist der KiWi-Bestand nämlich gut verteilt über die Asylarchive der Republik.

Die Tatsache des verschütteten, heute verstreuten Verlagsgedächtnisses hatte in jüngster Zeit unmittelbare Konsequenzen für zwei verlagshistorische Buchprojekte.

Nach Das Buch Witsch im Jahr 2014 erscheint in diesen Tagen Dem Glücksrad in die Speichen greifen, der zweite Band des Kölner Autors und Historikers Frank Möller über Joseph Caspar Witsch. Frank Möller hat im Auftrag des Verlags eine umfassende Monographie über das schillernde Leben des Verlagsgründers Joseph Casper Witsch geschrieben. Diese Biografie eines der großen Verlegerpatriarchen ist zugleich Verlags-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte bis zu Witschs Tod im Jahr 1968. Geschrieben und fertiggestellt werden konnte sie nur mit Glück, weil Frank Möller von 2005 bis zum Einsturz des Historischen Archivs im dortigen KiWi-Archiv schon das Allermeiste recherchiert und auch fotokopiert hatte. Tatsächlich musste der Historiker ab 2009 beim Schreiben aber ungeplante Umwege über andere Quellen gehen und konnte einige Querverbindungen mit Hilfe des Archivs nicht mehr ziehen. Der Umfang der Witsch-Biografie in zwei dicken Bänden ist auch der Entscheidung geschuldet, heute und mittelfristig nicht zugängliches Verlags-Archivmaterial ausführlich zu zitieren und so Verlagsgeschichte in Buchform zu dokumentieren.

Ein weiterer Beitrag zur Kiwi-Verlagsgeschichte erscheint im Frühjahr 2016. Mit Büchern und Autoren. Mein Leben als Verleger heißen die Verlegererinnerungen von Reinhold Neven Du Mont, der den Verlag von 1969 bis 2001 führte. Buchstäblich anknüpfend an den Erstverleger Witsch erinnert sich Reinhold Neven Du Mont an die Autoren und Bücher dieser Zeit sowie an den gesellschaftspolitischen und kulturellen Werdegang des Verlags über drei erfolgreiche Jahrzehnte – diesmal alles ohne Archiv.

Doch eine gute Nachricht gibt es dann noch. Günter Wallraffs Vorlass ist komplett vorhanden. „Ganz unten“, wie ein Buchtitel Wallraffs‘ lautet, hat sich in diesem Fall bewährt, denn ein Teil des Kellers im Südteil des Magazins war stehen geblieben. „Und da war der ganze Vorlass von Günter Wallraff. Ein bisschen angestaubt, aber sonst nichts. Nur ganz unten, da war eine Kiste verstaubt, sonst war nichts passiert. Da haben wir direkt Günter Wallraff verständigt, und es war für ihn ein Triumph: Erstmals musste die BILD-Zeitung zwangsläufig positiv über ihn berichten, weil seine Sachen noch da waren.“

“Kölner Schadensbilder”, vor und nach der Restaurierung
© “Kölner Schadensbilder”, vor und nach der Restaurierung

Kölner Schadensbilder

Das Historische Archiv Kölns war das einzige Archiv aus den vier Großstädten des Mittelalters – Rom, Konstantinopel, Jerusalem und Köln –, das die Zeiten bis 2009 unbeschadet überstanden hat, ein existierendes funktionierendes Archiv, das in ein Kulturgrab verwandelt wurde.
Wie geht man als Archivleiterin nach dem ersten Schock damit praktisch um?
„Man hat als Archivar ja eine bestimmte Fachlichkeit gelernt“, sagt Bettina Schmidt-Czaia. „Aber wenn man dann merkt, dass das überhaupt nicht mehr passt, dann fängt man an, komplett umzudenken. Das ist ein Lernprozess ohne Gleichen: Es gab zwar andere kleinere Havarien, mal einen Wassereinbruch hier, ein Feuer dort, oder das Erdbeben, das das Stadtarchiv von L’Aquila in den Abruzzen beschädigte, ebenfalls 2009. Aber wir hatten keine Anleitung anderer Archivare, wie man ein eingestürztes Archiv behandeln muss“.

Auch ohne Anleitung wurden bis heute fast eine Million Bergungseinheiten in den Asylarchiven, im RDZ und am Heumarkt ersterfasst. Verschiedene Prozesse greifen dabei ineinander.
„Die Phase eins der Erfassung läuft relativ gut und kontinuierlich. Die hat schon im November 2009 angefangen. Wir haben jetzt 970.000 Bergungseinheiten und wir wissen, wir werden am Ende 1,5 bis 1,7 Millionen haben. Das sind aber keine ursprünglichen Erschließungseinheiten, sondern unter Umständen nur der Teil einer Akte, ein Fragment …Es sind Bergungseinheiten, nicht wie vorher Verzeichniseinheiten“, differenziert die Archivleiterin.
In der sogenannten Phase eins der Bergung wird alles, was in den Asylarchiven zwischengelagert war, jeder Karton, aufgemacht, eine Mappe wird herausgenommen und mit Barcode gescannt, dann wird in der Datenbank geprüft, ob das Objekt, dieser Inhalt irgendeinem Archivbestand oder irgendeinem anderen Nachlass zuzuordnen ist.

Im Rahmen der Erstversorgung wurde hochgerechnet, dass das geborgene Archivgut zu rund 15 Prozent leicht, zu rund 50 Prozent mittelschwer und zu rund 35 Prozent schwer beschädigt ist. Die Kräfte, die durch den Einsturz auf das Archivgut gewirkt haben, führten zu Beschädigungen, die der Fachwelt so bislang unbekannt waren. Neben den Wasserschäden, dem Mikrobenbefall und der umfassenden starken Verschmutzung waren es die vielfältigen mechanischen Schädigungen des Archivguts, die Knicke, Stauchungen und Risse, die zum Ausdruck „Kölner Schadensbilder“ führten – und die die Restaurierungsarbeiten besonders anspruchsvoll machen.

“Kölner Schadensbilder”
© “Kölner Schadensbilder”

Es ist bis heute schwer vorherzusagen, wie die Schadens-Level sich exakt verteilen werden.
„Es gibt immer mal wieder Einheiten, bei denen ganz viel erhalten ist, und dann gibt es immer wieder auch ganze Kisten, die in sehr schlechtem Zustand zu uns kommen. Deshalb können wir noch nicht zuverlässig sagen, wie es sich verteilt. Immerhin können wir mittlerweile 96 Prozent des bis jetzt Geborgenen entweder als Digitalisat oder als Original innerhalb von vier bis sechs Monaten für die Benutzung zur Verfügung stellen – wenn es in Köln ist.“
Optimistisch gehen die Archivare davon aus, dass fast 90 Prozent der gefundenen Objekte wieder verwendbar sein werden.

Digitalisierung und Benutzung

Da aber die praktische Verwendbarkeit der Archivalien im Original auf Jahre nur eingeschränkt bzw. nicht möglich sein wird, wurde die schon vor dem Einsturz existierende Idee eines „Digitalen Archivs“ in ihrer Umsetzung forciert.

Aus dem ursprünglichen Plan, einzelne Schmuckstücke digital zugänglich zu machen, wurde so das Ziel, weitestgehend sämtliche Bestände virtuell zu rekonstruieren. Die Realität nach dem Einsturz macht die Digitalisierung einfach notwendig. Und dieser zwangsläufige Digitalisierungsschub führte inzwischen dazu, dass das Historische Archiv so viele seiner Findmittel in einer Datenbank gespeichert hat wie kaum ein anderes Archiv.

Wasserränder
© Wasserränder

„Die Digitalisierung und die Erfassung laufen quasi parallel“, erklärt Frau Fleckenstein. „Das sind verschiedene Workflows, die alle ineinander greifen. Das Ziel wäre, alles digital zu haben, praktisch ist es aber so, dass die Kapazitäten beschränkt sind. Aber die fertig gestellten Digitalisate können immerhin schon benutzt werden. Der Nutzer erhält dann von uns, je nachdem, wie umfangreich die Datei ist, entweder über FTP-Up- und -Download über einen Austauschserver das Material, oder er erhält es auf einer CD oder DVD. Viele Benutzer sind auch ganz glücklich damit – denn sie müssen dann nicht nach Köln kommen.“

Der Internetauftritt „Digitales Historisches Archiv Köln“ (www.historischesarchivkoeln.de) wird zudem sukzessive zum Digitalen Lesesaal des Historischen Archivs ausgebaut. Über 500.000 Zugriffe verzeichnete die Website in den beiden vergangenen Jahren. Die Anfragen per Mail, die je nach Sachgebiet beantwortet werden, liegen wohl in diesem Jahr erstmals im fünfstelligen Bereich. Ein Forum zum gemeinsamen Austausch von Nutzern wird gerade aufgebaut. So könnte auch die Identifizierung von bislang nicht identifiziertem Archivgut per Onlinecommunity vorangetrieben werden.

Trotz der digitalen Nutzungsstrategie gibt es weiter das Ziel des Archivs, so viele Originale wie möglich im Lesesaal zugänglich zu machen. Da Archivalien aus manchen Beständen schon nach der Reinigung, andere erst nach langwieriger Vollrestaurierung wieder zur Verfügung gestellt werden können, werden nicht erst vollständige Bestände sondern bereits Einzelstücke zugänglich gemacht, sobald dies technisch möglich ist.
Dazu werden die Archivalien in drei Kategorien eingeteilt:

A: Das Original ist wieder voll benutzbar.

B: Das Original kann noch nicht im Lesesaal vorgelegt werden, lässt sich aber digitalisieren, d.h. Nutzung über die Website ist möglich.

C: Vor einer Digitalisierung ist eine Vollrestaurierung durchzuführen.

Die Nutzungsnachfrage steigt rasant, weil sich herumgesprochen hat, dass man Archivalien inzwischen wieder benutzen kann. Doch, und dieser Hinweis erfolgt nachdrücklich im Gespräch, die Voraussetzung für die Nutzung eines bestimmten Archivguts ist nicht nur, dass es der Kategorie A oder B angehört, sondern auch sein entsprechender Vorlauf durch die Restaurierung. In manchen Fällen kann es von der Anfrage, dem Auftrag zur Restaurierung über den Basiskonservierungsprozess selbst und die abschließende Identifizierung durch die Facharchivare bis zu sechs Monate dauern, ehe die bestellten Akten zur Verfügung stehen.
„Ein halbes Jahr, das sagen wir als Maximum. Und das Archivgut muss in Köln sein – eine Einzelbeschaffung aus den Asylarchiven ist logistisch unmöglich. Das bedeutet, dass die Benutzung bei 46 Prozent des Gesamtbestandes derzeit nicht möglich ist, weil es noch nicht in Köln durch die Prozesse geschleust werden kann. Obwohl es bei 96 Prozent theoretisch möglich wäre. Das ist ein Riesen-Delta“, bedauert Bettina Schmidt-Czaia.
Die Bedingungen, unter denen das Haus wieder aufgebaut und als Archiv benutzbar gemacht wird, sind komplex und nicht leicht zu vermitteln, betont die Archivleiterin. Für manchen Besucher, der früher einfach an ein Regal ging, die entsprechende Akte entnahm und so bequem im funktionierenden Archiv forschen konnte, ist diese Situation schwer nachvollziehbar. Auch unter den circa 300 betroffenen Nachlassgebern, die jährlich im Sommer die aktuelle Liste zum Restaurierungsstand ihrer Depositate erhalten, wird die fehlende Praktikabilität in der Nutzung des Archivs moniert.

Neubau Stadtarchiv, Skizze Aussenraumperspektive © Büro Waechter+Waechter
© Neubau Stadtarchiv, Skizze Aussenraumperspektive © Büro Waechter+Waechter

Der Neubau, die Kosten und zwei Prozesse

Abhilfe kann und wird letztlich nur das neue Archivgebäude und die physische Zusammenführung der Archivalien in den dortigen Magazinen leisten.
Der Neubau ist beschlossen: Am Kölner Eifelwall soll nach den Plänen des Siegentwurfes eines Architekturwettbewerbs von 2011 ein transparentes, mit einer einladenden Glasfront versehenes neues Stadtarchiv gebaut werden. Die Finanzierung ist gesichert, das Rechnungsprüfungsamt hat geprüft, alles ist freigegeben. Allein durch den Rat der Stadt Köln ist die Fertigstellung noch nicht bestätigt. Statt 2017 wird es nun wohl 2019 werden.
„Vernunft und Kostengesichtspunkte müssten jetzt dazu führen, dass man möglichst schnell baut. Wir wissen, dass durch die Verschiebung Kosten entstehen, zusätzliche Kosten dadurch, dass der Neubau noch nicht da ist, Unterbringungskosten, Fahrtkosten, Schwierigkeiten in der Benutzung.“

Man muss dazu wissen, dass die gesamten Wiederaufbauarbeiten von der Stadt Köln finanziert werden. Die Stadt Köln geht komplett in Vorleistung.

Und man muss auch wissen, dass zwei Verfahren anhängig sind. Da ist zum einen das strafrechtliche Ermittlungsverfahren um den Tod der beiden jungen Männer beim Einsturz der Nachbargebäude. Und das zivilrechtliche Beweisverfahren, das die Schadensursache und den entstandenen Schaden am Archivgut evaluiert und die Entschädigung dafür ermittelt. Diese Bewertung beinhaltet auch eventuelle Entschädigungsforderungen bezüglich des Archivguts von Nachlassgebern, für die nun die Verfallszeit (von fünf Jahren) verlängert wurde, um sie nicht in Nachteil zu setzen. Die Nachlassgeber haben die Stadt beauftragt, ihre Interessen in diesem Rechtsstreit mit zu verfolgen.

Bettina Schmidt-Czaia weist auf einen leeren Schreibtischstuhl hin:
“Auf diesem Arbeitsplatz sitzt an drei von fünf Arbeitstagen der Gutachter des Gerichts, Herr Professor Dr. Hartmut Weber, ehemaliger Präsident des Bundesarchivs. Er ist als unabhängiger Gutachter des Gerichts hier unterwegs. Nach einer Stichprobenziehung bewertet er an den Arbeiten hier, welche Schäden vor dem Einsturz da gewesen sind, welche nach dem Einsturz. Er hat hier den ganzen Wiederaufbau sozusagen im Blick.“
Das Gutachten von Professor Weber wird Anfang 2016 erwartet. Dann seien die Stichproben genommen und sei eine Aussage über die Höhe des entstandenen Schadens möglich, sowohl was die Restaurierung betrifft als auch die Rekonstruktion. „Und dann gehen wir vor Gericht, dann gibt es sicher Gegengutachten, davon ist auszugehen bei dieser Summe. Insgesamt reklamiert man aufseiten der Stadt Köln einen Schaden von mindestens 1,2 Milliarden Euro.“

Gefriertrocknungsanlage
© Gefriertrocknungsanlage

Rundgang durch die Restaurierungs- und Digitalisierungswerkstätten

Nach all den theoretischen Informationen und Fakten ist der Tross bereit, in die Labore des Wiederaufbaus aufzubrechen.

Mit dem Fahrstuhl geht es in den ersten Stock, vorbei an einer Vakuumgefriertrocknungsanlage. Ein Großteil der geborgenen Objekte musste gefriergetrocknet werden. Dabei wird den Archivalien in einer speziellen Vakuumkammer die Feuchtigkeit entzogen, indem das Wasser direkt vom gefrorenen in den gasförmigen Zustand überführt wird. Nach fünf Jahren ist der gesamte geborgene Bestand trocken.

Wir begegnen Herrn Dr. Fischer, der neben Frau Dr. Fleckenstein und Herrn Dr. Plassmann einer der drei Leiter der archivischen Sachgebiete ist. Unterschieden werden all die Bücher, Urkunden, Akten, Karten, Pläne und Fotografien in die Sachgebiete a) Nachlässe und Sammlungen, die Abteilung b) Neuere Städtische Überlieferung seit 1815 und c) alles, was von vor 1815 stammt.
Herr Fischer leitet auch die Grundsatzabteilung und ist damit auch zuständig für die Barcode-basierte Erfassung aller Archivalien, eine Software-Herausforderung und ein Prozess der permanenten Zuordnung und Einspeisung in die Systeme. „Dabei lernen wir vor allem unsere Bestände besser kennen als, glaube ich, je ein Archivar seine Bestände kennengelernt hat“, sagt er.

Nachdem das nasse Material ausgesondert und vakuumgetrocknet wurde, wird es trocken gereinigt. Die Trockenreinigung ist fast immer der erste Arbeitsschritt. Unterlässt man ihn, kann es bei nachfolgenden Maßnahmen dazu kommen, dass der Schmutz untrennbar an das Objekt gebunden wird. Staub und Schmutz können zudem einen Befall durch Mikroorganismen begünstigen, da sie einen bevorzugten Nährboden darstellen. Der Betonstaub des vom Einsturz geschädigten Archivguts aus der Severinstraße hatte einen hohen alkalischen pH-Wert von 11 bis 12 – das heißt: fast ätzend.
Je nach Material, beispielsweise Papier, Leder, Pergament, Holz, Metall, Wachs und Blei, und je nach Oberflächenbeschaffenheit des Materials muss ein geeignetes Verfahren für die Trockenreinigung gefunden werden.

Weiter geht es zur Digitalisierung.
Sobald die Restaurierung die Objekte für die Digitalisierung freigibt, kommen sie in dieser Abteilung mit Vorgaben der Restaurierung an, wie bestimmte Objekte zu digitalisieren sind, z.B. in welchem Öffnungswinkel eine Handschrift digitalisiert werden darf. Gegebenenfalls müssen auch Restauratoren dabei zur Seite stehen.
Einfach scannen geht also nicht. Eine mittelalterliche Urkunde beispielsweise muss mit Handschuhen behandelt und unter ein Gerät gebracht werden, das die Urkunde schont. Der Kaltlichtscanner arbeitet berührungsfrei, das Wachssiegel wird nicht durch zu warme Leuchten beschädigt. Ein Horror-Szenario: Einsturz überstanden, aber beim Scannen schmilzt das Siegel!
Wir machen ferner Bekanntschaft mit dem Zeilen- und dem Flächenscanner, einem Repro-Stand speziell für Handschriften, Negative und Dias, sowie mit einer Großbildkamera, die 320 Megapixel-Bilder macht. Allesamt High-Tech-Geräte, mit denen die Artefakte behutsam in momentan 30.000 bis 90.000 Digitalisate pro Monat verwandelt werden.

Die Trockenreinigung findet an der sogenannten „Reinen Werkbank“ statt. Dabei kommen zahlreiche Methoden und Werkzeuge zum Einsatz, vom Pinsel, Spatel oder Skalpell, über den Latexschwamm bis zur Druckluft aus Airbrush- oder Ausblaspistolen. Nur in den seltensten Fällen bringt eine Methode allein den gewünschten Erfolg. In der Regel sind kombinierte Verfahren am effektivsten: Zunächst wird das Blatt mit einem Pinsel oder mit Druckluft behandelt, anschließend kann mit dem Latexschwamm gezielter und gründlicher gereinigt werden. Anhaftende Verkrustungen fallen zusätzlich dem Skalpell zum Opfer. Und auf Nachfrage erfahren wir von der Reinigungskraft, dass nach vier Stunden Trockenreinigung eines Objektes die Trennung schon sehr schwer fallen kann.

Der Wolfenbütteler Buchspiegel
© Der Wolfenbütteler Buchspiegel

Und dann ist da noch eine für Buchmenschen ganz besondere Apparatur, der sogenannte Wolfenbütteler Buchspiegel.
Bücher, die maximal 45 Grad geöffnet werden dürfen, damit das Leder am Rücken nicht bricht, werden in den Buchspiegel hineingelegt. Auf der einen Seite befindet sich ein Spiegel, auf der anderen Seite eine Glasplatte. Die hochwertige Kamera nimmt quasi das Spiegelbild der jeweiligen Seite auf. In der Software wird das Ganze dann wieder entspiegelt, d.h. man sieht dort die wirkliche Seite, frei von Verzerrungen und im richtigen Format. Würde man das Buch schräg digitalisieren, wäre das Bild verzerrt.

Alles, lernen wir, wird vor der Reinigung und hinterher fotografiert und fortlaufend automatisch indexiert. Das ergibt riesige Datenmengen, die auf der „Centera“ gespeichert werden, einem redundanten und revisionssicheren Speichersystem. Für das System gibt es zur Sicherheit zwei weit voneinander entfernte Speicherorte. Im System selbst, an jedem der Standorte, werden die Dateien auch noch mal mehrfach gespiegelt, damit wirklich alle Daten sicher sind. Revisionssicherheit ist ein Aspekt der Authentizität und Integrität, der besonders wichtig ist im Archivwesen, damit die einmal aufgespielten Dateien nicht mehr verändert werden können.

Schließlich gelangen wir über die Abteilung „Restaurierung“, wo sich mit Stauballergien nicht gut arbeiten lässt und in der gerade eine Kriminalakte aus dem 16. Jahrhundert wiederhergestellt wird, in einen Raum, in dem das „Urkundenprojekt“ läuft:
Die Urkunden, zum Beispiel aus dem Jahr 1247, waren vor dem Einsturz in Hüllen aufgehängt. Nun liegen sie auf Tableaus montiert in Kartons.
„Nach dem Einsturz konnte man sie am zweiten, dritten Tag raustragen, man hat die Urkunden aber in große Boxen geladen, damit man sie transportieren konnte“, erinnert sich Bettina Schmidt-Czaia. „Dabei haben sie an den Siegeln zum Teil erheblich gelitten. Und wir mussten entscheiden, was machen wir weiter mit diesen Urkunden. Wir haben uns, weil Staub durch den Druck eingedrungen ist, entschieden, alles umzubetten, und zwar in diese neue Sortierung. Es gibt Kästen, die man hier aufklappen kann, da kann man praktisch jede Urkunde rausnehmen. Die werden mit Folie fixiert, Siegelfixierung, man kann sie individuell anpassen, weil die anderen manchmal zu breit sind und manche kleine Siegel gehen da drin unter. Wir hatten 63.000 dieser Urkunden, jetzt sind wir bei 28.000, die umgebettet wurden.“

Urkunde aus dem Jahr 1247
© Urkunde aus dem Jahr 1247

Helge Malchow vermutet am Schluss, dass sich für die Räume, Labore und die Archivobjekte im RDZ bestimmt schon Künstler interessiert haben.
Tatsächlich wären da zum einen die „Kölner Fundstücke“ des Zeichners Rolf Escher, der in Düsseldorf an der Akademie war und u.a. in Münster gelehrt hat. Er hat den Prozess der Vakuumgefriertrocknung, Restaurierung klassisch gezeichnet und im letzten Herbst im Archiv am Heumarkt ausgestellt. Entstanden sind 90 Zeichnungen und Radierungen, mit denen Escher eine Brücke schlägt zwischen den geborgenen und restaurierungsbedürftigen Dokumenten auf der einen und Kunstwerken, historischen Baudenkmälern und exemplarischen Motiven aus dem Kölner Stadtbild auf der anderen Seite.
Außerdem gab es die Künstlerin Johanna R. Wiens, Schülerin von Jörg Immendorff und Meisterschülerin von Gerhard Merz, die sich in 50 Bildern und 50 Skulpturen und Installationen intensiv mit dem Einsturz des Historischen Archivs und dem damit verbundenen Verlust dokumentierter Geschichte auseinandergesetzt hat. Die Galerie „Martina Kaiser – Cologne Contemporary Art“ zeigte ihre Arbeiten unter dem Titel „Köln und das verlorene Gedächtnis“ 2014.
Diese Kontraste aus Alt und Neu, die Urkunden, der Schmutz und die Artefakte, die Labore, die Werkzeuge und die modernen Techniken – das fasziniert sicher noch weitere Künstler, darf man mutmaßen.

Zeit genug, sich dafür zu interessieren, haben sie.

Die Frage haben wir bislang aufgespart, sie muss angesichts des Mammutprojekts Wiederaufbau jedoch gestellt werden: Wie lange werden die Restaurierungsarbeiten wohl noch dauern?

„Es gibt eine erste Schätzung, die hat ein Unternehmensberater kurz nach dem Einsturz mal vorsichtig abgegeben. Sie könnte sich bewahrheiten, zeigen nun die Zahlen, die wir darauf beziehen können“, sagt auf ihre ruhige und verbindliche Weise Bettina Schmidt-Czaia. „Er hat damals von 30 bis 50 Jahren gesprochen, die man braucht, um die Restaurierung der durch den Einsturz entstandenen Schäden abzuschließen. Würde es ein einzelner Restaurator machen, würde er 6.300 Jahre benötigen, das heißt wiederum, umgerechnet auf Mann- oder Personenjahre, wir brauchen ungefähr 200 Restauratorinnen und Restauratoren, die jährlich daran arbeiten. Dann käme man auf die 30 bis 50 Jahre.“

Mit ein wenig Abstand zu den Bildern, die wir gesehen haben, damals 2009 in der Sekunde der Zerstörung und unlängst im Porzer Zentrum der Rekonstruktion, gesellt sich zu den Assoziationen an Sisyphos und Kafka, die einem in den Hallen und Laboren des RDZ kommen, ein Staunen. Ein wachsendes und bewunderndes Staunen darüber, wie dort mit Präzision und Ausdauer, mit buchstäblicher Leidenschaft und großer Fachkompetenz in den nächsten Jahrzehnten das kulturelle Gedächtnis der Kölner Stadtgesellschaft vor dem Vergessen gerettet wird.