Vier Fragen an Friederike Oertel

1. In Ihrem Buch gehen Sie Selbstzweifeln und Widersprüchen nach, hinterfragen Rollenerwartungen, die sicherlich jede Frau kennt. Welche gesellschaftliche Normen oder Überzeugungen würden Sie als besonders hinderlich für die Geschlechtergerechtigkeit ansehen?
Eine besonders wirkmächtige Erzählung ist die vom “Mutterinstikt”, der angeblich dafür sorgt, dass sich Mütter “von Natur aus” mehr um ihre Kinder kümmern als Väter und andere Bezugspersonen. Die Wissenschaft hat diesen Mythos zwar längst widerlegt und mittlerweile wollen sich auch viele Paare gleichberechtigt um ihre Kinder kümmern. Doch mit der Geburt des ersten Kindes verfallen sie trotzdem in traditionelle Rollenmuster: Sie bleibt zuhause und kümmert sich ums Kind, er geht arbeiten. In Juchitán ist das ein wenig anders: Mutterschaft und Erwerbsarbeit schließen sich nicht aus, im Gegenteil, sie werden zusammen gedacht.
2. Die Stadt Juchitán im Süden Mexikos gilt seit Langem als »Stadt der Frauen«: Frauen sind dort die Oberhäupter ihrer Familie und Besitz wird von Müttern an die Töchter vererbt. Wie unterscheiden sich die sozialen Strukturen in Juchitán von denen, die Sie im patriarchalen Alltag erlebt haben?
In Juchitán sind Frauen in der Öffentlichkeit sehr präsent, vor allem auf dem Markt und bei den vielen Festen. Als Händlerinnen bestimmen sie die lokale Wirtschaft, verwalten das Geld und ernähren die Familienmitglieder. Keine Frau, sagen die Menschen im Ort, sei finanziell von einem Mann abhängig. Mütter und Großmütter hüten aber nicht nur das Geld, sondern auch die Traditionen. Sie sind der Dreh- und Angelpunkt der Gesellschaft. Und noch etwas ist anders: Die zapotekische Gesellschaft kennt nicht nur Frauen und Männer, sondern noch ein drittes soziales Geschlecht, die sogenannten Muxe. Auch sie gelten als Teil der matriarchalen Kultur.
3. Welche Lektionen über die Dynamik von Macht und Geschlecht im Alltag haben Sie aus Ihrer Zeit im Matriarchat gelernt, die für Frauen in patriarchalen Systemen hilfreich sein könnte?
Die juchitekischen Frauen haben den Ruf, besonders widerständig zu sein. Der frauendominierte Handel, die vielen Feste, die ausgeprägten weiblichen Netzwerke und das Prinzip der Gegenseitigkeit – das alles existiert nicht unbedingt, weil in Juchitán das Matriarchat oder die “Kultur der starken Mutter” herrscht, sondern trotz patriarchaler Strukturen. Man könnte sagen: Die Frauen lassen sich nicht unterkriegen, sie arbeiten hart und erkämpfen sich immer wieder eigene Räume. Sie sind unbeugsam – und ich glaube, das müssen wir alle ein Stück weit sein. Gleichberechtigung ist ein zäher und anstrengender Prozess.
4. Wie hat Sie der Aufenthalt in Juchitán persönlich beeinflusst? Gibt es eine Erkenntnis über das Frausein, die Sie aus Ihrer Zeit in Juchitán mitgenommen haben?
Leider habe ich in Juchitán kein Zaubermittel gefunden, um besser mit dem Patriarchat klarzukommen. Kein Schutzschild, das ich über mich halte und an dem alles abprallt. Trotzdem bin ich auf meiner Reise zur Ruhe gekommen und habe Trost gefunden. Weil ich gesehen, erlebt und gelesen habe, dass das Patriarchat nicht universell, nicht gottgegeben und schon gar nicht natürlich ist. Geschlechterrollen sind nicht in Stein gemeißelt, sondern vielfältig, flexibel und veränderbar. Ich wurde zwar vom Patriarchat geprägt, aber ich kann unnütze Glaubenssätze und Denkmuster auch in den Papierkorb verschieben, sie überschreiben und ersetzen. Das ist oft anstrengend und zermürbend, aber auch befreiend.

