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Laudatio auf Dirk von Lowtzow. Eine Poetologie von Dachs bis Distanz.

Von Mara Delius

Lieber Dirk von Lowtzow, lieber Herr Stadtrat Imholz, liebe Vertreterinnen und Vertreter der Politik, liebe Frau Gleba, liebe Frau Heinrici, lieber Herr Platthaus, meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich möchte, nein ich muss mit einem Geständnis beginnen: Ich bin kein Popmusikkritiker – und ich bin auch unfähig, die Sprache eines solchen zu sprechen. Und ich habe es wirklich versucht in den letzten Tagen an meinem Schreibtisch in Berlin. „Dirk von Lowtzows Songs oszillieren zwischen einem kraftvoll aufgeplusterten Rock-Sound und dem Rock-Realismus der von Sinustönen verschredderten Tracks“, habe ich mich sagen gehört, auch die Ausdrücke „blubbernde Synthesizer“ und „fiebrig brummende Verstärker“
fielen probehalber in die Stille meines Zimmers hinein, ja, ich sprach sogar von einer „glockenhell stürzenden Gitarre“, deren Aufheulen sich in ein „polymorph-hysterisches Miauen und Schnurren“ steigert, bis in „ein existenziell-umflortes Winseln“ hinein.


Natürlich habe ich mir selbst kein Wort geglaubt – wie auch, es waren Zitate aus Texten, Lobeshymnen, von Popmusikkritikern über die Band Tocotronic und insbesondere Dirk von Lowtzows Schaffen, die ich da vor mich her sagte wie fremde Losungen –; ich habe mir nicht geglaubt, ich habe mich gefühlt wie jemand, der sich in ein schlecht sitzendes Bühnenkostüm gezwängt hat und darin sehr falsch Karaoke singt; eine lächerliche Fehlbesetzung vor 200 Leuten, die doch nur auf den Hauptact warten.

Wahrscheinlich ist kaum ein Werk einer deutschen Band je so durchtheoretisiert worden wie das von Tocotronic, Album um Album; inzwischen muss es ebensoviele Germanistik-Arbeiten über die Texte geben wie aus Songzitaten gefertigte Überschriften im Archiv der FAZ. Vielleicht deswegen, weil Tocotronic eben nicht nur eine Gruppe waren und sind, sondern auch eine Utopie beanspruchen; eine Utopie, die nicht aus bereits bestehenden Gegebenheiten entspringt, sondern zuallererst eine Form absoluter Unbestimmtheit verlangt, aus der sich erst etwas Radikales, Neues, Anderes ergeben kann, dann, später, was immer das auch sei.


„Ich bin noch nicht vollendet“, wie es in einem Song heißt: Eine Zustandsbeschreibung, die spätestens seitdem eine gigantische Deutungsmaschinerie in der kritischen Industrie angeworfen hat, deren letzter Akt eine Überdeutetheit ist, die sich paradoxerweise nur noch auf die ewiggleiche fahle Formel bringen lässt: Tocotronic ist gleich Diskurspop.

Und, wäre das wirklich schon alles – dann würde ich jetzt aus drei Songs zitieren, die Dirk von Lowtzow geschrieben und als Sänger und Gitarrist der Band performt hat, und auf die inhärente Intermedialität von Wort und Klang verweisen – da Musik, dort Text, außen Lyrics, innen Lyrik – und ich würde das literarische Debüt „Aus dem Dachsbau“ erwähnen und erklären, dass es wie ein geschriebenes Konzeptalbum wirke. Und dann würde Dirk von Lowtzow spielen, bekäme ein ambitioniertes Blumengesteck und eine Urkunde im Lederfutteral und wir könnten uns beglückwünschen zu einem geradezu idealtypisch intermedial ausgerichteten Preis – der dieser Wiesbadener Literaturpreis ja
schließlich sein soll. Nun bin ich aber eben Literaturkritikerin. Und kann als solche muss ich Ihnen sagen: So einfach ist das alles dann doch nicht!

Wer je drei Takte Adorno gehört hat, der weiß: Musik ist, wie jede andere Kunst, selbst eine Art Philosophie – „eine Philosophie, die mit theoretischen Mitteln zu Bewusstsein gebracht werden will“, heißt es im Aufsatz „Zur gesellschaftlichen Lage der Musik“. Der Weg dorthin sei vorgezeichnet von der künstlerischen Konstruktion und der inneren Logik des Gebildes selbst. Nur: Wo genau liegt sie in einem Song? In der Musik? Oder im Text? Oder eben in beidem, in der Verfügung ineinander? Und wer würde dieses Gespinst auch entwirren wollen – sicher nicht der Songschreiber selbst, der nur genervt oder gelangweilt auf die typische Frage reagieren kann, was denn nun zuerst da gewesen sei, Text oder Musik. Die Deutungshoheit des „Zuerst“ gibt es nur in der Vorstellung tüftelnder Theoretiker, nicht in der eines Künstlers.

In den letzten ein, zwei Jahren sind viele Bücher von Musikern erschienen, und als skeptische Literaturkritikerin würde ich sagen: vielleicht auch ein paar zu viele. Man muss gar nicht an den singenden Literaturnobelpreisträger von vor ein paar Jahren denken, der gerade wieder ein Buch veröffentlicht hat, es genügen die jüngsten Beispiele schreibender Musiker, die auch von Kiepenheuer und Witsch verlegt werden: Patti Smith und Jarvis Cocker.


Bei dem einen oder der anderen kann man den Eindruck bekommen, das Buch sei ein bestenfalls okayes Beiprodukt des fulminanten musikalischen Werkes, ein Accessoire eines Stardaseins, das auf den Markt gebracht wird als mehr oder weniger auratischer Merchandiseartikel. Versammelte Nebentracks, flüchtige Notizen am Rande der anderen Kunst, nur eine schnelle Sprachverpoppung: Sätze, die ohne Musik wie rasch erkaltetes Blei etwas starr auf den Seiten liegen. Nicht jeder Künstler ist eben auch in jeder Kunst ein Künstler – vor allem nicht in der der Sprache.

In Dirk von Lowtzows Werk aber passiert etwas mit der Sprache: Sie wird in etwas Eigenständiges verwandelt – in eine empfindliche Sprache.

Wer sich der Musik öffnet – wie wir das nachher werden tun können – kann eine Stimme hören, die wechselt zwischen Singen und Sprechen und Erzählen, die sich von den Klängen ziehen lässt und sich dann wieder entzieht; wer sich der Musik öffnet, hört einen Sänger, der seine Ketten von Assoziationen, Metaphern, Gedankensprüngen zeigt und als Sprach-Spiel-Material sichtbar macht, als etwas, das sich vom singenden Selbst trennt und ihm schon im Moment des Gesungenwerdens als Fremdes wieder eigen entgegentritt. Etwas anderes findet der, der sich dem literarischen Text nähert: in ihn hineingeht und
eingräbt in das Dickicht der Theorie-Referenzen und das Unterholz der literarischen Anspielungen von Lovecraft bis Lawrence.


Denn „Aus dem Dachsbau“ ist ja nur oberflächlich die mosaikhafte Autobiografie in Miniaturen, als die das Buch, oft beschrieben worden ist; es ist und ist zugleich mehr als ein Abécédaire von Schwebezuständen zwischen Alleinsein und Einsamkeit, mehr als nur Ertrag des Imperativs „Schreib alles auf, das ist das einzige Gesetz“. Dirk von Lowtzow selbst hat diese, seine Literatur einmal als „kleine Literatur“ beschrieben, in Anlehnung an Deleuze und Guattaris littérature minoritaire. Schriftsteller seien im Akt des Schreibens wie Höhlenbauer, beinahe wie wühlende Tiere selbst, heißt es da. Der „Dachsbau“ ist keine Welterklärungsliteratur, sondern ein System kurzer Texte wie Tunnel, oft, aber nicht immer miteinander verbunden, stilistisch und motivisch: in den knappen Beschreibungen einer Umwelt voller karger kurzekhafter Nichtorte – Autobahnunterführungen, Zugfensterplätze, Vorgärtenbäume und Feldwegen, denen mit grob skizzierten Plänen begegnet wird; in vielen dieser Tunnel warten Zwischenwesen aus „Wind in den Weiden“-artigen Fabeltierwelten, von denen einzelne Exemplare in tomiungererhafter Renitenz hervorkommen können – Füchse und Bären und allen voran natürlich der Dachs selbst, der wie ein Freak zweiter Ordnung erzählt ohne zu sprechen und damit von einer Welt kündet, die immer anders ist als die, die einen tatsächlich umgibt.


Zu der poetischen Sensibilität, die diese Tunnel in die Sprache gräbt, gehören als Werkzeuge die lodernde Abscheu gegen die Versloganisierung von Worten und die Faszination für eigentümliche Wörter, Phrasen und Szenen, für die Idiosynkrasien ihrer Bedeutungen; Selten ist die peinliche Autorität Erwachsener den Jungen gegenüber schrecklicher beschrieben worden, deren hoffnungsvolle Wut und überhaupt der deutschen Spießer im Trekkinggewand als im Text „Junge Union“, in dem zwei Jungen Kerzen töpfern müssen und zwar auf Verlangen des Lehrers „mit Tropfenfang“.

Es gibt eine Szene in „Aus dem Dachsbau“ da geht der Erzähler auf der spontanen Suche nach dem Grab des Schriftstellers Hubert Fichte durch ein märzkaltes Hamburg. Die Stadt, speziell der Hafen wirkt wie die endlose Verlängerung aller vorherigen Nichtorte, klirrende Kältezonen des deutschen Geistes, dessen Lieder von Schiffen und Sehnsucht und Fernweh ihm nichts sagen wollen. Und stattdessen geht er, weiter, bis das Ziel, Fichtes Grab, fast vergessen scheint und dennoch alles über Fichte gedacht, assoziiert und gesagt worden ist; das schafft nur eine Sprache, die – in ganz wörtlichem Sinn – delirieren kann. Was das Gegenteil von Welterklärertum ist, eher ein verspielter, sinnlicher, um nicht zu sagen: ein musikalischer
Zugang zur Welt ist – und auch eine Antwort auf die schönen Schrecken der Existenz, die dem Erzähler an jeder Straßenecke begegnen.

Der wichtigste Eintrag in Dirk von Lowtzows Poetik scheint also naheliegender Weise der des Buchstaben D zu sein: D wie Dachs, D wie Delirieren. Aber es gibt noch ein drittes D und das ist vielleicht das wichtigste: D wie Distanz.


Der Imperativ „Schreib alles auf“ gilt nur mit dem Nachsatz „aber nimm es nicht zu ernst“; das Gebot der ironischen Distanz rettet vor der Prätention und schafft wunderbar absurde Bilder wie das der Dosenchampignons gereimt auf Kräuter der Provence, die eine triste Tiefkühlpizza zur Verheißung werden lassen sollen und im Kühlschranklichtschein natürlich alles andere als das sind.

In allen Texten, gerade denen, die von Einsamkeit, Weltabgewandtheit oder Verpanzerung erzählen, gibt es eine Vertrautheit des Erzählers mit sich selbst in seiner Sprache, und vielleicht liegt es allein am Ton der Stimme, die zu hören ist, ob nun gesungen oder geschrieben – dass Distanz als ein Angebot der Nähe erscheint. „Komm mit in meine freie Welt“ heißt ein Song auf dem jüngsten Album von Tocotronic. „Unter dem Pflaster liegt nur der Sand“ ist die erste Zeile; es ist eben nicht „der Strand“ der alten Utopie, der Rettung verspricht – entscheidend ist weniger das Glück der versprochenen Freiheit als die Einladung ins Andere selbst: „Komm mit.“

Meine sehr verehrten Damen und Herren, mein Jury-Kollege Andreas Platthaus hat an dieser Stelle letztes Jahr, als wir Maren Kames mit dem gerade frisch geschaffenen Wiesbadener Literaturpreis auszeichneten, gesagt: Nun werde keine Tradition begründet, sondern eine Traduktion – von einer Kunst in die andere. In Dirk von Lowtzows Werk erfolgt die Traduktion natürlich auch von Text zu Musik oder Musik zu Text, vor allem aber von Existenz in eine empfindliche Sprache – auch wenn das nun – und so viel Popkritikerreferenz erlaube ich mir zum Schluss dann doch – wirklich fast schon so klingt wie „Pepsi und Cola zusammenschütten“.


Herzlichen Glückwunsch, lieber Dirk von Lowtzow, zu diesem Preis.

Wiesbaden, 16. November 2022

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