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»Wer muß unter die Guillotine?«

Ein WhatsApp Chat kurz vor Ostern zwischen KiWi Editor at Large Helge Malchow (71) und seinem Autor Joachim Lottmann (59) über Cancel Culture und warum der neue KiWi Roman »Sterben war gestern« von vielen Zeitungen nicht besprochen wird.

Helge Malchow: Hallo Schriftsteller, Ihr neuer Roman ist so unterhaltsam wie alle bisherigen. Aber in den Feuilletons ist Funkstille. Haben Sie eine Erklärung?

Joachim Lottmann: Es ist unfaßbar schönes Frühlingswetter, und ich fahre jetzt mit dem Rad zum Prater, wo Christa schon mit FreundInnen wartet. Müssen wir jetzt wirklich über "Sterben war gestern" reden?

Helge Malchow: Sie sind da wohl ziemlich frustriert inzwischen.

Joachim Lottmann: Über mein Buch? Überhaupt nicht. Ich war doch immer ein Autor fürs Feuilleton, der viel besprochen und wenig gelesen wurde. Jetzt ist es umgekehrt, und das hatte ich mir immer gewünscht!

Helge Malchow: Fragen Sie bitte mal Christa und die FreundInnen auf der Praterbank, woran das liegen könnte. 

Joachim Lottmann: Der Publikumserfolg?

Helge Malchow: Nein, das Schweigen der Medien. Es ist ja fast schon eine Omerta.

Joachim Lottmann: Eigentlich interessiert es mich nicht, aber wenn Sie schon anfangen... natürlich ist da eine Erklärung. Übrigens gibt es schon Rezensionen, wenn auch wahnsinnig wenige, und die sparen ausnahmslos das Thema des Buches aus, ich meine: die Story. Also daß da ein Journalist seine Arbeit verliert und dann auf Abwege gerät.

Helge Malchow: Das ist nur ein Ast des Story-Baums. Was ist mit den anderen Ästen: Eine Generation wird besichtigt. Ein Mann wird älter. Ein Terroranschlag ändert das Leben...

Joachim Lottmann: Ja, genau. Es gibt bekanntlich immer viele Äste im Lebensbaum. Blöderweise führt offenbar jetzt ein bestimmter Einzelner dazu, daß die Kulturredakteure in diese Angststarre verfallen. Ich glaub ja immer noch, daß sich das bald legt.

Helge Malchow: Eigentlich ist es ja eine Komödie: ein alter weisser Mann verheddert sich in den neuen Kampflinien und findet dann zu neuer Gelassenheit, weil es Wichtigeres gibt...

Joachim Lottmann: Klar, eine Komödie über cancel culture, neben all dem anderen. Ich begreife die Aversion nicht, mit der zum Beispiel die 'taz' reagiert. Es ist doch, meiner Meinung nach, total versöhnlich: der alte, weißhaarige Mann wird am Ende wieder eingestellt bei der Zeitung, nachdem er einen Reigen brutal schöner Abenteuer durchlebt hat. Die er ohne die Entlassung nicht erlebt hätte. Ich meine sein notgedrungenes Wirken als Jugendforscher.

Helge Malchow: Und die metaphysische Dimension: ein Held spielt alle seine Rollen durch, alle sind ein bisschen lächerlich, weil am Ende die PersonIn mit der Sense wartet...

Joachim Lottmann: Schön erkannt. Bis zu diesem Grad der Text-Durchdringung kann es natürlich nicht kommen, wenn man andauernd das dämliche Spiel "was ist wahr, was ist erfunden" betreibt. Das tun die Leute, weil ich ja wirklich bei der 'taz' rausgeflogen bin, also weil ich angeblich "zu wenig weiblich, jung, divers, queer" und so weiter war.

Helge Malchow: Sind Sie ja auch. Nicht jammern! Das Interessante ist: auch Robespierre hatte recht und landete dann selbst unter der Guillotine. Der Flow der Geschichte ist grösser als seine Protagonisten. Am besten erkennt man das in Romanen. Sogar in Ihrem...

Joachim Lottmann: Robespierre teilte sein Schicksal mit vielen, aber bei bei der 'taz' war ich der einzige, der unter die Guillotine mußte. Von über hundert Bloggern hat es mich erwischt. Weil alle anderen die erwartbare Systemkritik im Herzen tragen, das schlechte-Laune-Programm, viele jetzt in Form der Verschwörungstheorie, während ich so wirke, als würde ich mich noch nicht einmal dafür schämen, daß mein Vater in der FDP war. Ich bin zu lustig. Ich wollte ja auch gerade gegen Corona ein lustiges Buch setzen.

Helge Malchow: Die Scham überwindet man nur im Spiel slash Roman. Spiel ist Freiheit. Der Rest sind Flugblätter, auch die richtigen...

Joachim Lottmann: Ob Rainald Goetz mich deswegen für "böse" hält, weil ich so oft mit meinem Leben spiele, jetzt im Wortsinne? Ich glaube, er hat es einmal auf ähnliche Weise begründet. Er beobachtete mich, wie ich die Rolle eines Naiven einnahm, um eine Situation herzustellen, über die ich dann schreiben konnte. Tatsächlich ist es noch ärger: Ich spiele Rollen selbst dann, wenn ich nicht darüber schreibe. Ich unterhalte mich gern selbst.

Helge Malchow: Muss jetzt weg. Rufe Sie heute am Abend mal an. Ihr M.

Joachim Lottmann: Schade! Ich wollte gerade noch sagen, daß ich das nicht aus Bosheit tue. Sondern nur in Situationen, in denen ich mich sonst definitiv zu Tode langweilen würde. Im Zeitalter des wiedererwachten moralischen Fundamentalismus ist das natürlich das schlimmste Verhalten überhaupt. Oscar Wilde hätte heute keine Chance mehr, auch nur den kleinsten Text unterzubringen. So gesehen muß man befürchten, daß die Rezensionsexemplare von STERBEN WAR GESTERN in den Schubladen verunsicherter Ressortleiter Staub ansetzen werden... Okay, Sie müssen los, es ist "auch alles gesagt und nichts", telefonieren wir später. Ihr Autor L. (jetzt aber wirklich auf dem Weg zum Prater!)

Helge Malchow: Ok, wenn Sie auch den Robespierre Vergleich falsch verstanden haben: ich wollte damit sagen: auch d i e kommen oft unter die Guillotine...

Joachim Lottmann: Ach so, na egal - im Prater hatte ich übrigens gestern schon die Vorstellung: so viele glückliche Menschen, Vogelgezwitscher, Kindergeschrei, und so gut wie kein einziger weiß überhaupt, daß es das Wort ‚Identitätspolitik‘ gibt! Ist das nicht herrlich?

Helge Malchow: Im Frühling ist das Leben immer schön!