Leseprobe »Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße« von Maxim Leo
»Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße«
Plötzlich ein Held.
Im September 2019 bekommt Michael Hartung überraschend Besuch von einem Journalisten. Der recherchiert gerade über eine spektakuläre Massenflucht aus der DDR, bei der 127 Menschen in einem S-Bahn-Zug vom Bahnhof Friedrichstraße in den Westen gelangten. Der Journalist hat Stasi-Akten entdeckt, aus denen hervorgeht, dass Hartung, der früher als Stellwerksmeister am Bahnhof Friedrichstraße gearbeitet hat, die Flucht eingefädelt haben soll. Hartung dementiert zunächst, ist aber nach Zahlung eines ordentlichen Honorars und ein paar Bieren bereit, die Geschichte grundsätzlich zu bestätigen. Schließlich war er noch nie bedeutend, noch nie ein Held, und wenn es nun mal so in den Akten steht …
Nur wenig später reißen sich die Medien um ihn, Hartung wird in Talkshows eingeladen, vom Bundespräsidenten empfangen, seine Geschichte soll Vorlage für ein Buch und einen Kinofilm werden. Hartungs Leben fühlt sich plötzlich traumhaft und leicht an. Doch dann trifft er Paula, sie war als Kind in jenem S-Bahn-Zug, der in den Westen umgeleitet wurde. Die beiden verlieben sich ineinander – und Hartung spürt, dass er einen Ausweg aus dem Dickicht der Lügen finden muss. Obwohl es dafür eigentlich schon zu spät ist.
Leseprobe
1. Kapitel
Eine Fliege landete auf Hartungs Arm und riss ihn aus seinen Gedanken. Na ja, Gedanken. Es war eher so eine Art Wachkoma, in das er manchmal fiel, wenn er hinter dem Tresen saß und wartete. Na ja, warten. Als würde er ernsthaft damit rechnen, dass heute noch irgendwas in seinem Laden passierte. Die Wahrheit war, dass er mit gar nichts rechnete. Hartung konnte stundenlang so dasitzen, umgeben vom herrlichen Nichts.
Beate, die im Haus gegenüber wohnte und sich einmal die Woche einen romantischen Liebesfilm auslieh, hatte ihm neulich von ihrem Meditationskurs erzählt. Wenn er das richtig verstanden hatte, dann ging es bei der Meditation darum, seine Gedanken loszulassen, ihnen nachzuschauen wie einer vorbeifahrenden Straßenbahn. Offenbar gaben die Leute eine Menge Geld aus für dieses Straßenbahn-Gefühl. Und die meisten schaffen es nie, sagte Beate, weil es so verdammt schwer ist.
Ich sollte Meditations-Guru werden, dachte Hartung. Gedanken loslassen, das konnte er. Vermutlich war es sogar eine der Sachen, die er am allerbesten konnte. Er hatte allerdings nicht die leiseste Ahnung, wie er das anstellte, es passierte einfach. Und, ganz ehrlich, bisher hatte ihm das nur Probleme gebracht.
Die Fliege schimmerte blau und grün, er spürte ihre Beine auf der Haut. Hartung schaute auf die Uhr, es war zehn nach sechs, draußen war es schon dunkel. Im Laden standen zwei alte Stehlampen, die den kleinen Raum in ein schummriges Licht tauchten. Das mit den Lampen war eine Idee von Beate gewesen, sie meinte, so eine Videothek müsse wie ein Wohnzimmer aussehen, gemütlich und ein bisschen verkramt. Nun, verkramt war es, ob es allerdings auch gemütlich war, das wagte Hartung zu bezweifeln. Sein Blick fiel auf den welligen Linoleumboden, auf die Ikea-Regale, von denen sich das Furnier löste. »Zeit für den angenehmen Teil des Tages«, murmelte Hartung und ging zum Kinderfilm-Regal. »Der Schatz im Silbersee« oder »Die Olsenbande stellt die Weichen«? Nach einigem Nachdenken entschied er sich für »Der Gendarm von Saint-Tropez«, schob die DVD in den Laptop und machte ein Bier auf.
Hartung liebte Filme, mit denen er durch die Zeit reisen konnte. Er sah sich dann wieder auf dem braunen Sofa sitzen, links der Vater, rechts die Mutter, gegenüber der Schwarz-Weiß-Fernseher, der nach dem Einschalten nach verbranntem Staub roch. Hartung fand es wahnsinnig beruhigend, dass es Dinge gab, die schon damals da gewesen und noch immer nicht verschwunden waren. Diese Filme waren wie Paketschnüre, die sein Leben zusammenhielten.
Winnetou, Egon Olsen und Louis de Funès waren die Retter, die er manchmal rief. Gute Freunde, die kamen, wenn es nötig war. Keine Ahnung, was ihn gerade mehr runterzog, das beschissene Herbstwetter oder Karin, die mit ihm Schluss gemacht hatte. Oder dieser Brief, in dem die Immobilienverwaltung mitteilte, dass die Mietschulden für die Videothek bis Ende des Monats zu begleichen seien. Ja, wovon sollte er denn die blöde Miete bezahlen? Kam doch keiner mehr, außer die Leute aus dem Haus und Beate von gegenüber und noch ein paar andere Typen aus dem Viertel, die es irgendwie schick fanden, weiterhin eine alte Kulturtechnik wie die DVD zu benutzen. Klar war Hartung froh, dass es diese treuen Kunden gab, aber ein bisschen seltsam fand er sie schon. Wenn er nicht zufällig diese Videothek besäße, er hätte sich längst ein Netflix-Abo geholt.
So etwas dürfte er natürlich nie laut sagen, offiziell war er nämlich ein großer Freund des Arthouse-Kinos. Jim Jarmusch, Fellini, Lars von Trier, Chabrol, Michael Haneke, dieses Zeug. Auch das war eine Idee von Beate gewesen, die fand, man müsse den Leuten etwas Besonderes bieten. Hartung hatte die Arthouse-Kollektion vor fünf Jahren sehr günstig aus der Insolvenzmasse einer anderen Videothek erworben. Mehrmals hatte er versucht, sich einen von diesen Filmen anzugucken, aber er fand sie langatmig und auch total deprimierend. Deshalb hatte er sich nur die kurzen Inhaltsbeschreibungen auf den DVD-Packungen durchgelesen, hatte sich ein, zwei Details zu den Regisseuren gemerkt und war so in der Lage, einem Kunden, der sich zum Beispiel für Almodóvars »Zerrissene Umarmungen« interessierte, aufmunternd zuzurufen: »Hervorragende Wahl! Dieser Film ist eine wunderbare Mischung aus Melodram und Film Noir. Ein Leckerbissen für jeden Liebhaber cinematografischer Reminiszenzen.« Das funktionierte eigentlich ganz gut, wobei Hartung eine Weile gebraucht hatte, um unfallfrei »cinematografische Reminiszenzen« sagen zu können.
Oh Mann, wenn er das alles gewusst hätte, als Markus ihm damals angeboten hatte, den »Moviestar« zu übernehmen. »Eine bombensichere Sache«, hatte Markus gesagt. Als Hartung zögerte, war Markus sogar richtig sauer geworden. »Ich habe dich als Ersten gefragt, weil du hier schon so lange arbeitest. Weil du damit bis zur Rente Ruhe hast«, hatte er gesagt. Hartung solle ihm doch einen einzigen Grund nennen, warum die Menschheit irgendwann darauf verzichten würde, zu Hause Filme zu gucken. Als auch Hartung nach längerem Nachdenken kein Grund einfiel, rief Markus triumphierend: »Alter, das ist eine Goldmine, du wirst mir dein Leben lang dankbar sein!«
Dann war Markus mit seiner neuen Freundin nach Portugal verschwunden, nachdem Hartung diesen Vertrag unterschrieben hatte, der vorsah, dass er fünf Jahre lang die Hälfte des Gewinns an Markus ablieferte, quasi als Abstandszahlung für die Filme und die Stammkunden-Kartei.
Und die ersten Jahre liefen ja nicht mal schlecht, der »Moviestar« war zwar keine Goldgrube, aber für das, was Hartung so brauchte, reichte es. Bis irgendwann die Streamingdienste kamen und Hartung kapierte, dass er es wohl doch nicht in Ruhe bis zur Rente schaffen würde. Dass er sich im Gegenteil ziemlich anstrengen müsste. Und Anstrengung war noch nie sein Ding gewesen.
So war Hartung zum Opfer des technologischen Fortschritts geworden. Wieder mal, musste man sagen. Denn Hartung und der technologische Fortschritt, das war von Anfang an eine eher unglückliche Beziehung gewesen. Es begann 1976, Hartung hatte gerade seine Lehrausbildung zum Schranken- und Weichenwärter bei der Deutschen Reichsbahn mit der Gesamtnote Befriedigend abgeschlossen und blickte voller Optimismus in die Zukunft. Da wurde, nur Monate später, die neue Relais-Stellwerkstechnik aus der Sowjetunion in der DDR eingeführt, eine Revolution für das ostdeutsche Schienenwesen, die so ziemlich alles, was Hartung bis dahin über Weichen und Schranken gelernt hatte, nutzlos werden ließ.
Wegen mangelnder Arbeitsdisziplin (Schlafen und Biertrinken im Dienst) wurde er bei der Bahn entlassen und zur Bewährung in die Lausitzer Kohlegrube Bärwalde geschickt. Dort wurde Hartung zum Baggerfahrer umgeschult. Ein paar Jahre danach fiel die Mauer und die Freiheit begann, was für viele Ostdeutsche bedeutete, dass sie von nun an lieber mit sauberem Erdgas als mit stinkenden Briketts heizen wollten, weshalb die Braunkohlegrube schließen musste.
Hartungs anschließende Karriere als freier Vertriebsmitarbeiter bei einer TV-Satellitenschüssel-Firma in Berlin-Hellersdorf endete jäh, als das Kabelfernsehen seinen Siegeszug in den neuen Bundesländern begann. Sein nächster Versuch, endlich den beruflichen Durchbruch zu schaffen, wirkte da schon vielversprechender: Mit Hilfe seines Schulkumpels Mike Fischer gelang es Hartung, in den Handel mit tragbaren C-Netz-Telefonen einzusteigen. Das waren koffergroße Apparate, die Anfang der 90er Jahre vor allem von westdeutschen Aufbauhelfern im Osten und von der russischen Mafia benutzt wurden. Hartung verkaufte ganze Lkw-Ladungen davon, hatte Visitenkarten, auf denen »zweiter Geschäftsführer« stand, und fuhr einen dunkelblauen BMW Coupé. Endlich, dachte er, meint es das Schicksal gut mit mir, als wenige Jahre später die ersten Handys auf den Markt kamen und sein Geschäftsmodell restlos zerstörten.
So kam es, dass Hartung in all den Jahren ein eher fatalistisches Verhältnis zum Fortschritt entwickelte, weshalb er erst einmal ablehnte, als Markus (den er noch vom CNetz-Telefon-Business kannte) ihm im Sommer 1997 anbot, im »Moviestar« mitzuarbeiten. Hartung wollte um jeden Preis verhindern, noch einmal von einer technischen Revolution heimgesucht zu werden. »Bist du sicher, dass VHS-Videokassetten für die Zukunft gemacht sind?«, fragte er Markus. Der verstand die Frage nicht, brauchte aber dringend Leute, und bot Hartung die unfassbare Summe von 2000 D-Mark monatlich für eine Vollzeitstelle.
Seitdem saß Hartung hinter diesem Tresen, in diesem Laden, der sich kaum verändert hatte. Bis auf den Umstand, dass in den Regalen schon bald keine VHS-Kassetten mehr standen, sondern DVDs und Blu-Rays, was aber kein Problem war, weil Markus mit dem »Moviestar« so fett verdient hatte, dass er sich die Umstellung locker leisten konnte. In gewisser Weise hatte dieser erfolgreiche Sprung ins digitale Videozeitalter sogar ein wenig Hartungs Technologie-Trauma entschärft und seinen Glauben an die Zukunft wachsen lassen – zu Unrecht, wie er heute wusste.
Vor zwei Jahren hatte es dann noch eine weitere Veränderung gegeben, die allerdings weniger mit der technischen Entwicklung als mit Hartungs Finanzlage zu tun hatte. Diese zwang ihn dazu, den hinteren Raum (in dem die Horror- und Pornofilme standen) auszuräumen, um Platz für ein Bett, einen Kleiderschrank und eine Duschkabine mit Plastikvorhang zu schaffen. Das ersparte ihm nicht nur die Miete für seine Wohnung, sondern brachte ihm wegen des verkürzten Arbeitswegs jeden Morgen mindestens eine halbe Stunde mehr Schlaf, was für Hartung ein gewichtiges Argument war. Alles in allem also nur Vorteile, weshalb er sich später immer wieder fragte, warum er nicht schon viel eher darauf gekommen war.
Hartung nahm einen Schluck aus der Bierflasche und versuchte, sich auf den Film zu konzentrieren. Gerade fuhr Louis de Funès in seinem offenen Citroën die Strandpromenade von Saint-Tropez entlang. Gleich würde eine seiner Lieblingsszenen kommen, wenn der Gendarm Cruchot zusammen mit seinen Kollegen die Nudisten vom Strand vertrieb. Hartung lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Fliege flog von seinem Arm davon.
2. Kapitel
Die Tür des »Moviestar« sprang auf. Ein Mann, den Hartung noch nie gesehen hatte, betrat den Laden.
»Mein Name ist Landmann, ich arbeite für das Nachrichtenmagazin ›Fakt‹ und würde gerne ein Interview mit Ihnen machen.«
Hartung blickte auf den Laptop, wo der Gendarm Cruchot, begleitet von einer jauchzenden Nonne, eine herrliche Verfolgungsjagd absolvierte.
»Ich bin sehr beschäftigt, worum geht es denn?«
»Wie Sie sicher wissen, jährt sich in sechs Wochen zum dreißigsten Mal der Tag des Mauerfalls.«
»Mmhh.«
»Wir bereiten gerade eine Sonderausgabe vor, und ich habe ein paar Fragen. Es geht um die Flucht am Bahnhof Friedrichstraße am 12. Juli 1983. Der S-Bahn-Zug, der in den Westen verschwand. Die Massenflucht. Sie wissen schon.«
»Ja und?«
»Nun, ich habe mir die Stasi-Akten angesehen, Sie wurden damals als Hauptverdächtiger festgenommen, als Strippenzieher, der alles organisiert hat.«
Hartung drückte die Pause-Taste, Louis de Funès erstarrte mitten in einem Wutausbruch. Hartungs Blick wanderte zu dem Journalisten, der mit einem breiten Lächeln vor ihm stand.
»Strippenzieher? Ich?«
»Sie waren doch damals Stellwerksmeister bei der Reichsbahn am Bahnhof Friedrichstraße?«
»Stellvertretender Stellwerksmeister.«
»Ja, meinetwegen. In den Akten steht …«
»Interessieren Sie sich für Filme?«
»Klar, warum?«
»Weil das hier eine Videothek ist und kein Auskunftsbüro.«
»Ich möchte Ihnen doch nur ein paar Fragen stellen.«
»Und ich bin gerade ziemlich im Stress. Sind Sie bereits Kunde bei uns?«
»Nein, ich wollte doch nur …«
»Dann füllen Sie erst mal dieses Formular aus, die Aufnahmegebühr beträgt 80 Euro.«
»Warum soll ich denn … 80 Euro??«
»Damit ich während meiner Arbeitszeit mit Ihnen reden kann. Sie können auch die Premium-Mitgliedschaft für 120 Euro wählen. Dann kann ich länger mit Ihnen reden.«
Der Journalist sah Hartung genervt an, begann aber folgsam, das Formular auszufüllen.
»Hier steht nichts von einer Aufnahmegebühr.«
»Wurde auch erst vor Kurzem eingeführt, irgendwie muss ich den Kundenansturm ja in den Griff bekommen.«
Der Journalist blickte sich in dem leeren Laden um, versuchte, seinen Ärger hinunterzuschlucken.
»Okay. Wo muss ich unterschreiben?«
Hartung nahm zufrieden das ausgefüllte Formular entgegen und quittierte den Empfang von 120 Euro.
»So, jetzt können wir reden.«
»In den Akten steht, Sie hätten für eine Fluchthelfer Organisation gearbeitet, aber man konnte Ihnen nichts nachweisen.«
»Blödsinn.«
»Was ist damals passiert? Im Gefängnis, in Hohenschönhausen?«
In Hartungs Kopf begann es zu arbeiten, Bilder tauchten auf. Der helle Resopal-Tisch mit den abgestoßenen Kanten. Die Glasbausteine in den Fensteröffnungen, die den Blick nach draußen verschwimmen ließen. Das breite, nicht unsympathische Gesicht des Vernehmers. Hartung schüttelte den Kopf.
»Das ist ewig her.«