Manchmal wird Michel Houellebecq versehentlich für meinen Vater gehalten. Schuld daran ist ein gerahmtes Bild, das in meiner Küche hängt: Es zeigt den Autor, er trägt kurze Hosen, ein gelbes Hemd, eine rote Weste und hat durchaus Ähnlichkeit mit einem sommerlich angeschwitzten DHL-Mitarbeiter. Er hält einen Hund auf dem Schoß, länglich wie ein Zugluftstopper, den man zur Abdichtung auf das Fensterbrett legt, und drückt dem offenbar von einem schönen Ausflug erschöpften, hechelnden Tier einen Kuss auf die Schläfe.
»Ist das dein Vater?«, haben mich schon drei Freunde gefragt. Hat man Houellebecqs zerzauste Erscheinung der jüngsten Jahre im Sinn, wäre das ein Affront. Aber auf dem Foto mit seinem Hund sieht er sehr gut aus: Er glänzt vor Glück und schmunzelt, er ist kaum zu erkennen. Der Hund ist Clément, ein Welsh Corgi Pembroke. Seine offizielle hunderassenbestimmungsnormierte Fellfarbenbezeichnung ist rot/weiß – von Goldrot über Fuchsfarben bis Rehbraun reicht die Toleranzspanne dafür, wie bunt ein Corgi sein darf. Clément hat exakt dieselben Farben wie mein Lieblingseis aus Kindertagen – Pop Orange – und könnte, wenn man ihm die Augen nur minimal vergrößern würde, sofort eine eigene koreanische Zeichentrickserie bekommen, in der er unter dem Namen »Clemmy, der Mandarinenfuchs« putzige Kriminalfälle löst, assistiert von zwei verständigen Meerschweinchen.
Ich kann seinen Niedlichkeitsgrad kompetent beurteilen, denn ich habe Clément tatsächlich einmal live gesehen. Allerdings hat er unser Treffen fast vollständig verschlafen. Zwei Stunden lang lag der Vanille-Orangeneis-Hund dabei unter einem Tisch, die stummeligen Pfoten zuckten manchmal im Traum, als zöge ein untalentierter Puppenspieler mit zu ruckartigen Bewegungen an daran befestigten Nylonfäden. Unten schlief also Clément, oben sprach Michel Houellebecq mit der Moderatorin einer Literatursendung, worüber genau, weiß ich nicht mehr, möglicherweise habe ich damals, vor gut 15 Jahren, erst gar nicht zugehört. Ich saß im Publikum und schaute sehr verliebt auf den Hund, der mit dem Autor auf die Bühne gehoppelt und schon nach wenigen Minuten in tiefen Schlaf gefallen war.
Clément war immer dabei. Es gibt noch ein zweites schönes Foto von Herrn und Hund, das ich mal beim Googeln fand, auf dem Clément über Houellebecqs Schulter hängt, halb königliches Hermelin, halb Piratenpapagei, es sieht aus wie ein spontan improvisiertes Autorenporträt, geknipst bei einem Interview. Gekauft hat Houellebecq den Hund im Jahr 2000. Von Anfang an nahm er ihn mit zu Preisverleihungen, sprach über ihn mit Journalisten. Als Autorenkollege Frédéric Beigbeder den Autor für die französische GQ interviewte, war seine zweite, bange Frage: »Wie geht es Clément?« Dass der Hund zu der Zeit in einer Tierklinik behandelt wurde, hatte die gesamte französische Literaturszene mitbekommen. Houellebecq konnte ihn beruhigen, es gehe Clément schon besser; er bat die GQ-Leser trotzdem, für seinen Hund zu beten.
Nach dem Erscheinen seines Romans »Plattform« (in dem die Freundin des Protagonisten bei einem Terroranschlag stirbt) wurde er von islamistischen Fundamentalisten bedroht und versteckte sich zeitweilig in Irland auf dem Land. Als ihn dort ein Reporter des Scotsman besuchte und vorsichtig fragte, wie es so gehe, klagte Houellebecq, Clément sei gerade zwei Jahre alt geworden und komme darum nun allmählich in das Alter, in dem er sexuelle Ambitionen entwickele, und fragte den Journalisten, ob er ihm womöglich einen Kontakt zur königlichen Familie – und zu den Corgis der Queen – herstellen könne. Ein Witz, klar, aber Michel und Elizabeth – wie wunderbar verdruckst und hinreißend bizarr hätte dieses Treffen zweier großer Corgi-Freunde werden können, anberaumt allein zu Hundekopulationszwecken.
Wenn es um Clément ging, kümmerte sich Houellebecq wenig um die äußeren Umstände. Als »Die Möglichkeit einer Insel« in den Niederlanden veröffentlicht wurde, weigerte er sich, dafür auf Interview-Tingelreise zu gehen, und ließ die Journalisten in die Vogesen reisen, wo er gerade urlaubte. Um dort das sorgfältig terminierte Schwadronier-Schedule nonchalant zu sprengen, indem er ein paar Stunden verschwand, um Kroketten für seinen Hund zu kaufen. Tiervernarrte Marotten wie diese machen mir Houellebecq hochsympathisch. Natürlich habe ich auch deshalb eine besondere Schwäche für Clément, weil bei seiner Ausstattung ähnlich verschwenderisch mit Ohrenmaterial umgegangen wurde wie bei meinem eigenen Hund. Clément sieht tatsächlich aus wie eine selbst gebaute Version von Juri, bei der ein schludriger Heimwerker ein paar Zwischenteile und Verbindungsstücke verschlampt hat, sodass das Ergebnis nun leicht gestaucht und ulkig verkürzt wirkt. Zusammen könnten Clément und Juri ein Hunde-Remake von »Twins« drehen, diesem Film, in dem Danny DeVito und Arnold Schwarzenegger Zwillinge spielen – vermutlich wäre diese Produktion noch erfolgreicher als die Mandarinenfuchs-Detektivserie.
Ich liebe Houellebecqs Bücher, auch dafür, dass sie in ihrem zynischen Grant manchmal kaum auszuhalten sind, echte Zumutungen, und zwar noch mehr, seit ich weiß, dass ihr Verfasser eben nicht der universal lebensverachtende Schmuddel-Skandalisator ist, zu dem er so oft und so schlichthirnig geschrumpft wird. Die menschliche Korrumpierbarkeit und die marode Welt in all ihren schlammigen Schattierungen sind keine erbaulichen Themen, und Houellebecq kokettiert natürlich auch damit, dass ihn so viele mit dem Erzähler und den Figuren seiner Romane (die er obendrein gern mal »Michel« nennt) verwechseln. Dauernd muss man sich bei ihrer Lektüre fragen, was Ernst, was Provokation ist. In seiner Rolle als Hundebesitzer aber ist Houellebecq buttrig weich, wie nach einem aggressiven Peeling, das alle krustigen Ironieschichten um ihn herum abgeschmirgelt hat. Clément und Houellebecqs Liebe zu ihm ist der einzige Kontext, der ihn eindeutig macht. An Houellebecq ist nichts Niedliches, aber als Herrchen wird er tatsächlich auch ein wenig zum Houellebecqchen. Obwohl man die gewohnte misstrauische Musterung natürlich nicht so einfach einstellen kann: Wenn er mit seiner damaligen Frau auf der Webseite von Cléments Züchter posiert – ist das dann wirklich, echt, ernst gemeint? Und wer kommt überhaupt auf die Idee, Houellebecq als Werbe-Testimonial einzusetzen – außer vielleicht die Hersteller von Anti-Gilb oder beuligen Altherrencordhosen?
In einem Interview hat er einmal erklärt, seine Gefühle für Clément entsprächen am ehesten der sentimentalen Poesie der Romantik, deren Kunst er überhaupt verehre: das Schmachten nach Unendlichkeit, die Sehnsucht nach dem Nichtrelativierbaren, Nichtkleinzuknickernden. Er liebt seinen Hund, weil diese Form der Liebe die einzige, absolute ist, die niemals enttäuscht werden kann. Houellebecq ist in diesem Sinn also zumindest Teilzeit-Romantiker. Und Gleitzeit-Zyniker – was sehr gut passt, weil »zynisch« dem griechischen Wortstamm nach ja ursprünglich »hündisch« bedeutet.
Tatsächlich wird Houellebecq ganz pastellen, wenn er über Clément spricht. In einem hundezentrischen Interview mit Le Figaro teilt er, ganz anders als in seinen üblicherweise mit Stinkbömbchen versetzten Gesprächen, rührende Beobachtungen aus dem gemeinsamen Leben: »Als er jung war, war er ein ziemlich schüchternes Tier. Ich lebte in einem Haus, in dem es viele Türen gab. Manchmal war er stundenlang hinter einer Tür eingesperrt, ohne einen Mucks zu machen. Ein Mensch würde das niemals tun, er würde schreien. Clément konnte stundenlang hinter einer Tür warten. Ich suchte ihn dann irgendwann, schob die verschiedenen Türen auf und fand ihn. Ich finde das sehr bewegend, diese Art zu warten, diese Zuversicht. Der Hund legt sein Leben in deine Hände. Er macht dich völlig verantwortlich für sein Überleben, wie ein Kind. Aber das Kind hat keine Wahl. Der Hund gibt sich freiwillig.«
Einen Hund zu haben, sagt Houellebecq, verändere die Vorstellung vom Leben. »Das wäre fast das Thema eines Buches: Wie ein Hund die Lebensauffassung beeinflusst.« Ein solches Buch hat er noch nicht geschrieben, aber Clément hat Gastauftritte in den meisten seiner Bücher – eindeutig identifizierbar in seiner ganz persönlichen Corgi-Inkarnation oder vertreten durch abstrakte Artgenossen. Hunden schenkt Houellebecq die zärtlichen Momente, die es in seinen Büchern selten gibt.
In »Elementarteilchen« beschreibt Bruno seine Vorstellung vom Paradies, über die er einen Film drehen möchte: »Der Film spielt auf einer Insel, die ausschließlich von nackten Frauen und kleinen Hunden bevölkert ist. Im Anschluss an eine Katastrophe sind die Männer sowie fast alle Tierarten von der Erde verschwunden. (…) Die Frauen bleiben ewig jung und frisch, die kleinen Hunde ewig lebhaft und fröhlich.« Viel Aufwand legt Houellebecq in die genaue Auflistung aller Hunderassen, die in diesem Paradies leben: »Pudel, Foxterrier, belgische Zwerg-Griffons, japanische Chin-Hündchen, König-Karls-Hündchen, Yorkshire-Terrier, Kraushaar-Malteser, Westies und Harrier Beagles. Der einzige große Hund ist ein braver, sanfter Neufundländer, der eine Art Ratgeber für die anderen darstellt.« Eines Tages ertrinkt eines der kleinen Hündchen fast, weil es sich beim Schwimmen zu weit hinauswagt, doch seine Herrin merkt es rechtzeitig, zieht es aus dem Meer und erweckt es durch Mund-zu-Mund-Beatmung wieder zum Leben.
In »Die Möglichkeit einer Insel« hat Houellebecq Clément ein Denkmal gesetzt. Letzterer begleitet den Protagonisten dort als »Fox«, der, wie alle Hunde, eine »Liebesmaschine« sei: »Man stellt ihm ein menschliches Wesen vor und gibt ihm den Auftrag, es zu lieben – und dieses Wesen mag noch so plump, pervers, deformiert oder dumm sein, der Hund liebt es.« Genau so habe er es selbst erlebt, als er Clément kennenlernte, sagt Houellebecq: »Er war drei Monate alt und ungefähr zwei Stunden in seiner kleinen Transportkiste, bevor er ausstieg. Ich streichelte ihn, und ich glaube, er verstand sehr schnell, welche Menschen er mögen soll. Und er hat es hinbekommen. Es kam mir wie seine Mission vor: Er hatte die Mission, diese Menschen glücklich zu machen, sie zu lieben. Und er macht es. Es ist erstaunlich, er macht es. Er ist eine Quelle reiner Freude, perfekt.«
Fox tritt gleich am Anfang des Romans auf (»Meine gegenwärtige Inkarnation verschlechtert sich; ich glaube nicht, dass sie noch lange währt. Ich weiß, dass ich bei meiner nächsten Inkarnation meinen Gefährten wiederfinde, den kleinen Hund Fox.«), und mit ihm schließt das Buch, zumindest fast: Auf der vorletzten Seite sagt Daniel25, der 24. Klon von Daniel1: »Ich würde auf jeden Fall mein obskures Leben als verbesserter Affe so gut es ging fortsetzen, und ich bedauerte dabei nur zutiefst, dass ich den Tod von Fox verursacht hatte, dem einzigen Wesen, dem ich je begegnet war, das es verdient hätte zu überleben; denn in seinem Blick lag schon manchmal ein Funke, der die Ankunft der Zukünftigen ankündigte.«
Dazwischen passiert wenig Schönes und einiges Ekliges, die Menschheit ist schwerst lädiert und klont sich lethargisch durch ihre Existenz, ziemlich verzweiflungspornös kommt einem das alles vor. Die Liebe ist als Idee in dieser Welt längst abgewrackt und existiert nur noch in einer Konstellation: der bedingungslosen Zuneigung zu einem Hund, zu Fox eben, die sämtliche Daniel-Neuauflagen durch die Jahrhunderte überdauert, ungebrochen, wie bei dem ersten Zusammentreffen. »Ein kleiner rotbraun gefleckter weißer Hund mit spitzen Ohren, der höchstens drei Monate alt war, kroch auf sie zu – eine richtige Promenadenmischung. Sie bückte sich, nahm das Tier in die Arme und ging zum Auto zurück. So hielt Fox Einzug in unser Leben – und mit ihm die bedingungslose Liebe.«
Auch in »Karte und Gebiet« kommen Hunde vor. Selbstparodistisch scharwenzelnd tritt ein Bologneser Schoßhündchen namens Michel auf, das fast an Herzwürmern zugrunde geht und mit einem anderen Bologneser namens Lizzy Lady verpaart wird. Und es gibt einen kleinen Cameo-Auftritt von Clément. Wie ein Kind, das sein Lieblingsstofftier überallhin mitschleppen muss, hat Houellebecq ihn auch in dieses Buch geschrieben: als Begleitung eines mageren, alten Mannes in ein Café, zu dessen Füßen »ein rötlich weißer dicker Hund, ein kleiner Rattenjäger« lag. Beide tragen nichts weiter zur Handlung bei, als settingbildend halb zu schlummern. Tatsächlich handelt es sich hier sehr sicher um einen Corgi, denn die berufstätigen Exemplare dieser Rasse hatten früher auf den Britischen Inseln die Aufgabe, den Hof frei von Ratten zu halten und den Hühner- und Kaninchenstall vor Marder und Fuchs zu schützen.
Ich freue mich über jeden versteckten Clément, den ich in einem Houellebecq-Buch finde, und komme mir beim Entdecken vor wie die Wissenschaftler, die mit Infrarotlampen ein kleines Selbstporträt von Caravaggio in seinem Bacchus-Gemälde fanden – als seien es versteckte Grüße von einem Hundefanatiker zum anderen. Houellebecqs Zuneigung zu seinem auf Fotos irgendwie immer zu grinsen scheinenden Stummel-Clément macht die Autorenkunstfigur für mich zu einem kompletteren, komplexeren Menschen. Zu einem, den man bei aller Ehrfurcht vielleicht nicht anfassen, aber zumindest ansprechen könnte.