»Woher ich das so genau weiß? Anders kann es gar nicht gewesen sein!«
Maxim Biller, Rosen, Astern und Chinin
Warum ein Buch, das zum ersten Mal Maxim Billers weit verstreute Familiengeschichten aus mehreren Jahrzehnten in einem Band zusammenfasst? Zur Beantwortung dieser Frage lohnt es sich, auf seinen 2018 erschienenen Roman Sechs Koffer zurückzuschauen.
Sechs Koffer erzählt auf virtuose Weise die Geschichte eines lange zurückliegenden Verbrechens, das alle Familienmitglieder bis in die Gegenwart gefangen hält. Zugleich ist es eine Flüchtlingsgeschichte, die zurückgeht bis in die stalinistische Diktatur in der Sowjetunion, in die Nachkriegsjahre der jungen Tschechoslowakei, den 68er-Aufstand in Prag, ins Berlin der frühen 50er und späten 70er, kurz: in den Wahnsinn des Kalten Kriegs auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Und der Roman wird erzählt aus der Perspektive unserer heutigen Zeit, in der unerlöste Gespenster der Geschichte uns weiter lähmen und quälen. Wir hören von einer jüdischen Familie, von Schmil, von Dima und Natalia, von Wladimir, Lev und Sjoma, die nach dem Holocaust erneut und doppelt von der Geschichte belagert werden: von der stalinistischen Diktatur und vom allgegenwärtigen Antisemitismus nach dem Holocaust.
Wie in Akira Kurosawas Film Rashomon aus dem Jahr 1950, in dem verschiedene Versionen desselben Ereignisses erzählt werden, ist der Roman eine Art Ermittlung oder eine Untersuchung – wie im Übrigen fast alle großen Romane der Literatur oft versteckte Kriminalromane sind. Immer geht es darum, den Schleier, der auf den Dingen liegt, zu heben. Den Schleier, der aus Lügen entsteht, aus perspektivischer Wahrnehmung, aus Interessenblindheit, aus Klischees. Es geht um die Getriebenheit durch Ängste, Begehren, durch Ehrgeiz oder Neid.
Die bemerkenswerte Entdeckung des Romans ist, dass die verschiedenen Wahrheiten über das Verbrechen, das das Erzählen in Gang bringt, nebeneinander bestehen bleiben. Sechs Koffer ist damit auch eine kleine Studie über unsere Wahrnehmung, über Erkenntnis schlechthin, die zu einer Warnung führt: Vorsicht vor einfachen, beruhigenden Antworten. Respekt vor der Vielfalt der Sichtweisen, leben mit der kognitiven Dissonanz. Oder noch anders: Das Verständnis für den einzelnen Menschen, für seine Einzigartigkeit ist größer als der Wille zur Dingfestmachung des Täters auf dem Opfer-Altar der Gruppe.
Der Religionsphilosoph René Girard behauptet, dass alle menschlichen Gemeinschaften, selbst heutige Staaten, auf einem verdrängten Verbrechen errichtet sind, das die Menschen dann mit Ritualen und Beschwörungen immer wieder zugleich heraufbeschwören und verdrängen. Man könnte Maxim Billers Familienroman als eine Art therapeutisches Gegenprogramm betrachten: mutiges Hinsehen, erzählen, in Sprache übersetzen, aufklären und dadurch: wirklich heilen, aus dem ewigen Kreislauf von Schuld und Verdrängung heraustreten, zumindest als erzählerische Utopie.
Der Roman Sechs Koffer, aber auch der große Roman Biografie von 2016, in dem die beiden Protagonisten Soli und Noah auf eine Reise in die Vergangenheit gehen, haben einen neuen geradezu verblüffenden Blick auf das Gesamtwerk Maxim Billers eröffnet, der zur Idee der vorliegenden Sammlung von Erzählungen geführt hat.
So wie sechs verschiedene Familienmitglieder in Sechs Koffer auf ihre eigene Art immer zu in dieselbe Geschichte eintauchen, so wie Soli und Noah dies in Biografie tun, um dem Rätsel ihres Lebens näher zu kommen, so hat der Autor Maxim Biller mit einer großen Zahl von Familiengeschichten in den letzten dreißig Jahren ganz Ähnliches getan: stets von neuem, fast obsessiv, nähert er sich den Figuren einer einzigen Familie, die der eigenen realen Familie des Autors in vielen Punkten gleicht: immer wieder die aus Russland stammenden Eltern, die Konflikte mit der stalinistischen Diktatur in den 50er Jahren in der Sowjetunion, die Erinnerung an den 2. Weltkrieg und den Holocaust, die Flucht in die Tschechoslowakei und die Hoffnungen des Prager Frühlings, die erneute Flucht in die BRD nach 1968, der Übersetzerberuf des Vaters, die literaturliebende und schreibende Mutter, das Leben des Autors in Hamburg, München und Berlin, die schreibende Schwester, der Freund in Tel Aviv, die Emigration der Familienmitglieder in viele Länder.